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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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habe es aus eigenem Willen geschafft zu entkommen«, dachte sie. Aber im Falle dieses Mädchens waren die erlittenen Misshandlungen so schwer, dass der Schaden sich vielleicht nicht mehr rückgängig machen ließ. Wahrscheinlich würde sie nie mehr ihr natürliches Wesen zurückgewinnen. Bei diesem Gedanken durchfuhr sie ein heftiger Schmerz. Aomame sah in Tsubasa das kleine Mädchen, das sie vielleicht selbst einmal gewesen war.
    »Aomame«, sagte die alte Dame, als wolle sie ihr etwas eröffnen. »Besser, ich sage es Ihnen jetzt. Es war vielleicht nicht richtig, aber ich habe ohne Ihre Zustimmung Nachforschungen über Ihren persönlichen Hintergrund angestellt.«
    Aomame kam wieder zu sich und sah die alte Dame überrascht an.
    »Gleich nachdem wir uns das erste Mal hier getroffen und miteinander gesprochen hatten«, sagte die alte Dame. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.«
    »Nein, ich nehme es Ihnen nicht übel«, sagte Aomame. »Nachforschungen über mich anstellen zu lassen war unter den gegebenen Umständen ganz natürlich. Denn was wir tun, ist ja nicht gerade alltäglich.«
    »Das stimmt. Wir wandeln auf einem schmalen, sehr gefährlichen Pfad. Und gerade deshalb müssen wir einander vertrauen. Aber Vertrauen kann es nicht geben, wenn man über den anderen nicht weiß, was man wissen sollte. Deshalb habe ich alles über Sie in Erfahrung gebracht. Von der Gegenwart bis weit zurück in Ihre Vergangenheit. Das heißt, fast alles. Niemand kann restlos alles über einen Menschen wissen. Höchstens Gott.«
    »Oder der Teufel«, sagte Aomame.
    »Oder der Teufel«, wiederholte die alte Dame. Sie lächelte. »Mir ist bewusst, dass Sie in Ihrer Kindheit durch eine Sekte seelische Verletzungen erlitten haben. Ihre Eltern waren begeisterte Mitglieder der Zeugen Jehovas und sind es noch. Sie haben Ihnen nie verziehen, dass Sie den Glauben aufgegeben haben, und grollen Ihnen bis heute.«
    Aomame nickte stumm.
    Die alte Dame fuhr fort. »Meiner ehrlichen Überzeugung nach sind die religiösen Vorstellungen der Zeugen Jehovas nicht vertretbar. Stellen Sie sich vor, Sie wären als Kind einmal schwer verletzt worden oder hätten eine Krankheit bekommen, die eine Operation erforderlich gemacht hätte. Wahrscheinlich wären Sie gestorben. Wer so weit geht, lebenserhaltende Operationen zu verweigern, weil sie angeblich den biblischen Gesetzen widersprechen, ist nichts weiter als eine Sekte. Das ist ein Missbrauch von Religion, der jede Grenze überschreitet.«
    Aomame nickte. Die These, dass Bluttransfusionen abzulehnen seien, wurde den Kindern der Zeugen Jehovas von Anfang an eindringlich eingebläut. Man lehrte sie, es liege eine weit größere Seligkeit darin, mit reinem Körper und reiner Seele zu sterben und ins Paradies einzugehen, als gegen Gottes Gebot eine Bluttransfusion zu erhalten und in die Hölle zu stürzen. Für Kompromisse war kein Platz. Es gab nur zwei Wege, denen man folgen konnte – dem, der in die Hölle, oder dem, der ins Paradies führte. Die Kinder verfügten noch über kein kritisches Urteilsvermögen. Sie wussten nicht, ob diese Thesen gesellschaftlich anerkannt oder aus wissenschaftlicher Sicht korrekt waren. Sie glaubten einfach nur, was ihre Eltern ihnen beibrachten. Hätte ich als kleines Kind eine Bluttransfusion benötigt, dachte Aomame, dann hätte ich sicher auf Geheiß meiner Eltern darauf verzichtet und den Tod gewählt. Und wäre ins Paradies oder an irgendeinen anderen blöden Ort gekommen.
    »Ist diese Sekte bekannt?«, fragte Aomame.
    »Die Leute nennen sich ›Die Vorreiter‹. Sicher haben Sie den Namen schon einmal gehört. Eine Zeit lang war er jeden Tag in den Zeitungen.«
    Aomame konnte sich nicht erinnern, den Namen schon einmal gehört zu haben. Dennoch hielt sie es für klüger, nur vage zu nicken und nichts zu sagen. Sie war sich bewusst, dass sie gerade nicht im eigentlichen Jahr 1984 lebte, sondern offenbar in der leicht abgeänderten Welt von 1Q84. Noch war es nicht mehr als eine Vermutung, die allerdings von Tag zu Tag an Wahrscheinlichkeit gewann. Und Informationen, über die sie nicht verfügte, schien es in dieser neuen Welt noch viele zu geben. Sie musste bis auf Weiteres sehr aufmerksam sein.
    Die alte Dame fuhr mit ihrem Bericht fort. »Die Vorreiter haben als kleine Landkommune angefangen. Eine linksgerichtete Gruppe, die das Stadtleben hinter sich gelassen hatte, bildete ihren Kern und führte sie an. Irgendwann gab es eine abrupte Wende, und sie

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