1Q84: Buch 1&2
atmen konnte.
»Warum sagst du so etwas Gemeines?«
»Es hat keine Bedeutung. Ist mir nur plötzlich eingefallen«, presste Tengo mühsam hervor. Sie lockerte ihren Griff und seufzte. »Jetzt sprechen wir mal über deine Träume.«
Tengo atmete wieder regelmäßig. »Ich habe es doch schon gesagt, ich träume fast nie. Zumindest in letzter Zeit nicht.«
»Ein bisschen was wirst du doch träumen. Denn es gibt keinen Menschen auf der Welt, der nicht träumt. Das hieße Dr. Freud beleidigen.«
»Wahrscheinlich träume ich ja, aber wenn ich aufwache, kann ich mich an nichts erinnern. Auch wenn ich das Gefühl habe, etwas geträumt zu haben, weiß ich nicht, was es war.«
Sie schloss ihre Handfläche sanft um seinen erschlafften Penis und wog ihn behutsam in der Hand. Als ob ihr sein Gewicht etwas Wichtiges sagte. »Also, dann lassen wir das mit dem Traum. Dann erzähl mir von dem Roman, an dem du gerade schreibst.«
»Darüber möchte ich eigentlich nicht sprechen.«
»Ich verlange ja gar nicht, dass du mir aus dem Stegreif eine Zusammenfassung des Ganzen gibst. Ich weiß doch, dass du für deine Statur ein empfindsamer junger Mann bist. Einen Teil von der Einleitung oder irgendeine Episode kannst du mir doch erzählen, irgendetwas, auch wenn es nicht viel ist. Du sollst mir etwas anvertrauen, das niemand sonst auf der Welt weiß. Du hast etwas Gemeines zu mir gesagt, und ich möchte, dass du es wiedergutmachst. Verstehst du, was ich meine?«
»Ich glaube schon«, sagte Tengo mit unsicherer Stimme.
»Dann erzähl.«
Während sein Penis in ihrer Handfläche lag, erzählte Tengo. »Es ist eine Geschichte über mich selbst. Oder über jemanden nach meinem Vorbild.«
»Das liegt nahe«, sagte seine Freundin. »Und komme ich in der Geschichte auch vor?«
»Nein. Denn die Welt, in der ich bin, ist eine andere.«
»Und in dieser anderen Welt gibt es mich nicht.«
»Nicht nur dich gibt es nicht. Alle Menschen, die es auf unserer Welt gibt, gibt es auf der anderen nicht.«
»Wie unterscheidet sich die andere Welt von unserer hier? Kannst du feststellen, auf welcher Welt du bist?«
»Ja, das kann ich. Weil ich die Geschichte schreibe.«
»Ich spreche von anderen Menschen . Wenn ich mich zum Beispiel aus irgendeinem Grund plötzlich in die andere Welt verirren würde.«
»Ich glaube, du könntest es unterscheiden«, sagte Tengo. »Beispielsweise hat die andere Welt zwei Monde. Daran erkennt man den Unterschied.«
Die Welt, in der zwei Monde am Himmel standen, hatte er aus Fukaeris Geschichte übernommen. Tengo hatte vor, eine längere und kompliziertere Geschichte über diese Welt – und sich selbst – zu schreiben. Dass der Schauplatz der gleiche war wie in Eris kurzem Roman, würde vielleicht später zu einem Problem werden. Aber im Moment wollte Tengo unbedingt eine Geschichte über die Welt mit den zwei Monden schreiben. Und darüber konnte er später auch noch nachdenken.
»Wenn ich also nachts zum Himmel schaue und dort zwei Monde stehen, weiß ich, dass ich nicht auf unserer Welt bin, ja?«
»Das ist das Zeichen.«
»Und die beiden Monde überlappen einander nicht?«, fragte sie.
Tengo schüttelte den Kopf. »Warum, weiß ich nicht, aber die Distanz zwischen den beiden Monden bleibt immer erhalten.«
Seine Freundin dachte eine Weile für sich über die andere Welt nach. Ihre Finger zeichneten Figuren auf Tengos nackte Brust.
»Kennst du den Unterschied zwischen den englischen Wörtern lunatic und insane ?«, fragte sie ihn.
»Beides sind Adjektive, die ›geistesgestört‹ bedeuten. Den genauen Unterschied kenne ich nicht.«
» Insane bezieht sich wohl eher auf ein angeborenes Problem. Im Gegensatz dazu kommt lunatic von luna – Mond – und bezeichnet einen vorübergehenden Zustand. Im 19. Jahrhundert in England wurden Menschen, die als lunatic anerkannt wurden, ganz gleich, was sie verbrochen hatten, weniger streng bestraft. Statt dem Menschen die Schuld zu geben, sagte man, das Licht des Mondes habe ihn verwirrt. Es ist unglaublich, aber ein solches Gesetz existierte wirklich. Die Vorstellung, dass der Mond den Geist des Menschen in Unordnung bringt, stand über dem Gesetz.«
»Woher weißt du das denn alles?«, fragte Tengo verwundert.
»So erstaunlich ist das nun auch wieder nicht. Immerhin lebe ich bereits zehn Jahre länger als du. Also ist es nicht verwunderlich, dass ich ein paar mehr Dinge weiß.«
Tengo musste zugeben, dass sie damit wohl recht hatte.
»Ich habe Anglistik
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