1Q84: Buch 1&2
von seiner Größe auch an heißesten Tagen niemals ins Schwitzen geriet, versetzte Aomame immer wieder in Erstaunen.
Als Tamaru sie sah, nickte er kurz, murmelte eine kaum hörbare Begrüßung und sprach danach kein Wort mehr. Es kam nicht einmal zu ihrem üblichen Geplauder. Schnurstracks ging er ihr durch den langen Korridor voran und führte sie in den Raum, in dem die alte Dame sie erwartete. Aomame vermutete, dass er nach dem Tod der Hündin einfach keine Lust auf eine Unterhaltung hatte. »Wir brauchen einen neuen Wachhund«, hatte er beiläufig am Telefon gesagt. Als sei die Rede vom Wetter. Doch Aomame wusste, dass der Tod der Schäferhündin ihn in Wahrheit alles andere als kalt ließ. Er hatte all die Jahre ebenso an Bun gehangen wie sie an ihm. Tamaru empfand ihren plötzlichen und sinnlosen Tod als eine Art persönliche Beleidigung oder Herausforderung. Von seinem schultafelbreiten Rücken ging stummer Zorn aus.
Tamaru öffnete die Tür zum Salon für Aomame. Er selbst blieb dort stehen, um die Anweisungen der alten Dame entgegenzunehmen.
»Ich brauche Sie im Augenblick nicht, danke«, sagte diese. Auf einem Tischchen neben ihrem Sessel stand ein rundes Goldfischglas mit zwei roten Goldfischen. Es waren ganz ordinäre Goldfische, wie es sie überall zu kaufen gab, und ein ebenso ordinäres Goldfischglas mit ein paar grünlichen Wasserpflanzen darin. Aomame war schon mehrere Male in dem großen, luxuriösen Raum gewesen, aber die Goldfische sah sie zum ersten Mal. Offenbar war die Klimaanlage eingeschaltet, denn hin und wieder spürte sie eine kühle Brise auf der Haut. Auf einem Tisch hinter ihr stand eine Vase mit drei weißen Lilien, deren große Blüten an kleine, in Gedanken versunkene exotische Tiere erinnerten.
Die alte Dame bedeutete Aomame, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Die weißen Spitzengardinen vor dem Fenster zum Garten waren zugezogen, kamen jedoch gegen die starken Strahlen der sommerlichen Nachmittagssonne nicht an. In diesem Licht und in dem großen Sessel wirkte die alte Dame so erschöpft, wie Aomame sie noch nie gesehen hatte. Sie hatte ihre dünnen Arme aufgestützt, und ihr Kinn ruhte kraftlos in ihren Händen. Ihre Augen waren eingesunken und die Lippen bleich. Ihr Hals schien faltiger als sonst, und die äußeren Enden ihrer langen Brauen hingen ein wenig nach unten, als hätten sie es aufgegeben, sich der Schwerkraft zu widersetzen. Vielleicht litt sie unter einer Kreislaufschwäche, denn ihre Haut war an manchen Stellen so weiß, als habe man sie mit Mehl bestäubt. Sie schien um mindestens fünf oder sechs Jahre gealtert, seit Aomame sie das letzte Mal gesehen hatte. Der alten Dame schien es heute gleichgültig zu sein, dass ihre Erschöpfung so sichtbar wurde. Das war außergewöhnlich. Zumindest in Aomames Gegenwart war sie sonst immer bemüht, einen makellos adretten äußeren Anschein zu wahren. Sie hielt sich unter Aufbietung großer Willenskraft kerzengerade und benahm sich äußerst kontrolliert, um nicht das kleinste Zeichen ihres Alters erkennen zu lassen. Stets mit bewundernswertem Erfolg.
Heute ist wirklich einiges anders als sonst, dachte Aomame. Auch das Licht verlieh dem Raum eine andere Note als sonst. Und dann dieses banale, billige Goldfischglas, das eigentlich gar nicht in diesen Salon mit seiner hohen Decke und den eleganten antiken Möbeln passte.
Eine Weile schwieg die alte Dame. Die Wange in die Hand geschmiegt, blickte sie an Aomame vorbei auf irgendeinen Punkt im Raum. Aomame wusste, dass es dort nichts Besonderes zu sehen gab und dieser Punkt dem Blick der alten Dame nur als temporäre Zuflucht diente.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte diese mit ruhiger Stimme.
»Nein, danke«, erwiderte Aomame.
»Dort drüben steht Eistee. Falls Sie durstig sind, schenken Sie sich bitte ein Glas ein.«
Die alte Dame deutete auf einen Teewagen in der Nähe der Tür, auf dem ein Krug Tee mit Eis und Zitrone und drei verschiedenfarbige geschliffene Gläser standen.
»Danke«, sagte Aomame noch einmal, blieb aber sitzen und wartete.
In dem Schweigen der alten Dame lag eine gewisse Andeutung. Es gab da etwas, das sie sagen musste, das jedoch, indem sie es aussprach, an unerwünschter Realität gewinnen würde. Und diesen Augenblick wollte sie so lange wie möglich hinausschieben, und seien es nur ein paar Minuten. Ihr Blick glitt über das Goldfischglas hinweg. Schließlich schaute sie Aomame resigniert ins Gesicht. Sie hatte die Lippen fest
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