1Q84: Buch 1&2
studiert und irgendwann an einem Dickens-Lektürekurs teilgenommen. Der Dozent war ein wenig seltsam. Er ist immer abgeschweift und hat Dinge erzählt, die mit der Romanhandlung wenig zu tun hatten. Aber was ich sagen wollte – wenn schon ein Mond genügt, um den Leuten den Verstand zu rauben, müssten sie bei zwei Monden am Himmel doch völlig verrückt werden. Auch die Gezeiten würden sich verändern und der weibliche Zyklus durcheinandergeraten. Eine Unregelmäßigkeit nach der anderen würde auftreten.«
Tengo dachte darüber nach. »Wahrscheinlich wäre das so.«
»Sind die Menschen in der anderen Welt denn verrückt?«
»Nein, gar nicht. Sie sind überhaupt nicht besonders verrückt. Eigentlich machen sie in etwa das Gleiche wie wir hier.«
Sie drückte Tengos Penis ganz leicht. »Sie machen also im Großen und Ganzen das Gleiche wie wir hier. Wenn das so ist, worin liegt dann der Sinn dieser anderen Welt?«
»So kann ich die Vergangenheit unserer Welt umschreiben«, sagte Tengo.
»Du kannst die Vergangenheit umschreiben, wie es dir gefällt?«
»Ja.«
»Willst du die Vergangenheit denn umschreiben?«
»Willst du die Vergangenheit etwa nicht umschreiben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich die Vergangenheit oder die Geschichte umschreiben möchte. Was ich gern umschreiben würde, ist die Gegenwart.«
»Aber wenn man die Vergangenheit umschreiben könnte, wäre naturgemäß auch die Gegenwart anders. Denn die Gegenwart entsteht durch die Anhäufung von Vergangenheit.«
Wieder seufzte sie tief. Mehrmals hob und senkte sie die Hand, in der Tengos Penis ruhte. Es war wie eine Probefahrt mit dem Aufzug. »Dazu kann ich nur eins sagen: Du bist zwar ein ehemaliges mathematisches Wunderkind, ein Judo-Dan-Träger und schreibst einen langen Roman. Trotzdem hast du keine Ahnung von dieser Welt. Nicht die geringste.«
Dieses scharfe Urteil erstaunte Tengo nicht sonderlich. Keine Ahnung zu haben war momentan für ihn der Normalzustand. Es war keine erwähnenswerte Neuentdeckung.
»Aber das ist in Ordnung, du brauchst auch nichts zu wissen.« Seine Freundin änderte ihre Körperhaltung und drückte ihre Brüste an Tengo. »Du bist ein verträumter Mathematiklehrer an einer Yobiko, der Tag für Tag an seinem langen Roman weiterschreibt. Bleib, wie du bist. Ich mag dein Schwänzchen sehr. Die Form, die Größe und wie es sich anfühlt. Ob hart, ob weich. Ob krank, ob gesund. Und für eine Weile gehört es nur mir. Das ist doch so, oder?«
»Stimmt«, bestätigte Tengo.
»Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich extrem eifersüchtig bin, nicht wahr?«
»Ich habe es gehört. Eifersüchtig über alle Vernunft hinaus.«
»Wirklich über alle Vernunft hinaus. Das war schon immer so.« Sie begann ihre Finger langsam in verschiedene Richtungen zu bewegen. »Er wird gleich noch einmal hart. Hast du etwas dagegen einzuwenden?«
Er habe keine besonderen Einwände, sagte Tengo.
»Woran denkst du gerade?«
»Daran, wie du als Studentin in der Anglistikvorlesung sitzt.«
»Es war Martin Chuzzlewit . Ich war achtzehn, trug ein süßes Rüschenkleid und einen Pferdeschwanz. Ich war eine sehr ernsthafte Studentin und noch Jungfrau. Es fühlt sich an wie eine Geschichte aus einem früheren Leben … Jedenfalls war der Unterschied zwischen lunatic und insane die erste Erkenntnis, die ich mir an der Universität angeeignet habe. Und? Erregt dich die Vorstellung?«
»Natürlich.« Er schloss die Augen und stellte sich das Rüschenkleid und den Pferdeschwanz vor. Eine Jungfrau, die eine sehr ernsthafte Studentin war. Aber über jede Vernunft hinaus eifersüchtig. Er sah den Mond über dem Dickensschen London. Die Wahnsinnigen, die dort – insane oder lunatic – umherirrten. Sie trugen alle ähnliche Mützen und hatten ähnliche Bärte. Woran konnte man sie unterscheiden? Als Tengo die Augen schloss, konnte er nicht mehr mit Sicherheit sagen, in welcher Welt er sich befand.
Buch 2
Juli bis September
KAPITEL 1
Aomame
Der langweiligste Ort der Welt
Noch war das Ende der Regenzeit nicht offiziell verkündet, aber die hochsommerliche Sonne strahlte bereits ungehindert vom wolkenlos blauen Himmel zur Erde, und die nun üppig grünen Weiden warfen wieder ihre dichten schwankenden Schatten auf die Straße.
Tamaru empfing Aomame am Eingang. Er trug einen dunklen, aber sommerlich leichten Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte in gedeckten Farben. Ihm schien kein bisschen heiß zu sein. Dass ein Mann
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