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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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vorstellen wie einen neuen Typ von ansteckender Krankheit. Man weiß darüber Bescheid und hat einen Impfstoff zur Hand, der gegenwärtig auch gewissen Erfolg zeigt. Aber die Viren bleiben am Leben und werden von sekündlich stärker und resistenter. Sie sind klug und zäh und kämpfen gegen die körpereigenen Abwehrstoffe an. Daher weiß man nicht, wie lange der Impfstoff noch wirksam sein wird. Das ob der Vorrat ausreicht. Und verstärkt das Gefühl der Bedrohung bei meinem Klienten.«
    »Und wozu braucht er mich?«
    »Wenn ich – pardon – noch einmal den Vergleich mit der ansteckenden Krankheit bemühen darf: Ihr spielt möglicherweise die Rolle der Hauptträger.«
    »Ihr?«, fragte Tengo. »Meinen Sie damit Eriko Fukada und mich?«
    Ushikawa gab keine Antwort auf diese Frage. »Wenn Sie mir einen Vergleich aus der griechischen Mythologie gestatten, könnte man vielleicht sagen, ihr habt eine Art Büchse der Pandora geöffnet, aus der alles Mögliche entwichen ist. Meiner Einschätzung nach entspricht das in etwa der Auffassung meines Klienten. Sie und Fukaeri sind sich sozusagen zufällig begegnet und wurden zu einer unvermutet mächtigen Verbindung. Ihr habt euch gegenseitig äußerst wirkungsvoll ergänzt, dem jeweils anderen den Teil hinzugefügt, der ihm fehlte.«
    »Aber das ist im juristischen Sinn doch kein Verbrechen.«
    »Natürlich nicht, weder vor dem Gesetz noch vor der Allgemeinheit. Aber wenn Sie mir erlauben, George Orwells großen Klassiker zu zitieren – die Literatur ist eine großartige Quelle für Zitate –, handelt es sich eventuell um eine Art »Gedankenverbrechen«. Seltsamerweise befinden wir uns gerade im Jahr 1984. Vielleicht besteht da irgendein karmischer Zusammenhang. Aber, Herr Kawana, ich habe heute Abend schon zu viel geredet. Und das sind ja alles nicht mehr als unmaßgebliche persönliche Vermutungen, die jeder festen Grundlage entbehren. Doch da Sie mich gefragt hatten, wollte ich Ihnen zumindest in groben Zügen meinen Eindruck schildern.«
    Ushikawa schwieg, und Tengo überlegte. Nur persönliche Vermutungen? Inwieweit konnte er das, was dieser Mann sagte, für bare Münze nehmen?
    »Ich muss allmählich zum Ende kommen«, sagte Ushikawa. »Angesichts der Wichtigkeit Ihrer Entscheidung will ich Ihnen doch noch etwas Bedenkzeit einräumen. Aber nicht mehr sehr lange. Die Uhr tickt. Ticktack, unaufhörlich. Überdenken Sie jetzt bitte noch einmal unseren Vorschlag. Ich werde mich bald wieder bei Ihnen melden. Gute Nacht. Es hat mich gefreut, mit Ihnen zu sprechen. So, Herr Kawana, ich hoffe, Sie können nun beruhigt einschlafen.«
    Nach diesen Worten legte Ushikawa auf. Sprachlos starrte Tengo noch eine Weile auf den stummen Hörer, wie ein Bauer in einer Dürreperiode auf eine welke Pflanze in seiner Hand. In letzter Zeit neigten die Leute dazu, unvermittelt aufzulegen, wenn sie mit ihm telefonierten.
    Wie erwartet fand Tengo keinen Schlaf. Bis das bleiche Licht des Morgens durch die Vorhänge drang und die standhaften Großstadtvögel erwachten, um ihr schweres Tagewerk zu beginnen, saß er an die Wand gelehnt auf dem Fußboden und dachte an seine Freundin und den langen starken Arm, der sich von irgendwoher nach ihm ausstreckte. Doch all seine Gedanken führten zu nichts und bewegten sich immer wieder ziellos im Kreis.
    Tengo blickte um sich und seufzte. Er war völlig und ganz und gar allein. Was Ushikawa gesagt hatte, war nur allzu wahr. Er hatte niemanden, auf den er sich stützen konnte.

KAPITEL 7
    Aomame
    Eine geheiligte Stätte
    Das weitläufige Foyer im Hauptgebäude des Hotels Okura erinnerte sie mit seiner hohen Decke und der gedämpften Beleuchtung an eine riesige, prunkvolle Höhle. Die Stimmen der Menschen, die in den Sesseln saßen und sich unterhielten, hallten dumpf von den Wänden wider wie das Stöhnen von Lebewesen, denen die Eingeweide herausgenommen wurden. Der Teppichboden war dick und weich und ließ an dichtes altes Moos denken, wie es auf Inseln am Polarkreis wächst. Wie viele menschliche Schritte er wohl im Lauf der Zeit in sich aufgenommen hatte? Die Männer und Frauen, die durch das Foyer gingen, wirkten wie eine Schar Geister, die vor Ewigkeiten durch einen Fluch dorthin verbannt worden waren und unablässig eine ihnen auferlegte Aufgabe wiederholen mussten. Männer, die ihre steifen Business-Suits wie Rüstungen trugen, und junge schlanke Frauen, die anlässlich der in den verschiedenen Sälen stattfindenden Feierlichkeiten in elegante

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