1Q84: Buch 1&2
und Verarbeitung sah man, dass es sich um keine teuren Modelle handelte, sondern um Massenware, gekauft wahrscheinlich bei einem Großhändler. Sie saßen nicht ganz perfekt, hatten aber – es grenzte an ein Wunder – nicht eine Falte. Vielleicht wurden sie vor jedem Tragen gebügelt. Keiner der beiden Männer trug eine Krawatte. Der eine hatte sein weißes Hemd bis oben zugeknöpft, der andere trug ein graues Shirt mit rundem, kragenlosem Ausschnitt. Beide hatten derbe schwarze Lederschuhe an.
Der mit dem weißen Hemd war etwa 1,85 Meter groß und hatte einen Pferdeschwanz. Seine Augenbrauen waren lang und schön geschwungen wie ein Liniendiagramm, seine Gesichtszüge ebenmäßig und kühl. Er hätte Schauspieler sein können. Der andere war etwa 1,65 und kahlgeschoren. Er hatte eine breite Nase und einen kleinen Kinnbart, der wie Schamhaar an einer verkehrten Stelle wirkte. Neben dem rechten Auge hatte er eine kleine Narbe, wahrscheinlich von einer Schnittwunde. Beide Männer waren schlank und ihre gebräunten Gesichter schmal. Sie hatten kein Gramm Fett zu viel. Die breiten Schultern der Anzüge ließen die Muskelpakete darunter erahnen. Beide waren zwischen Mitte und Ende zwanzig. Ihre Augen wirkten durchdringend und scharf. Wie Raubtiere auf der Jagd machten sie keine unnötigen Bewegungen.
Aomame sprang auf und schaute auf ihre Uhr. Die Zeiger standen auf sieben. Sie waren auf die Minute pünktlich.
»Ja, das bin ich«, sagte sie.
Die Gesichter der beiden blieben völlig ausdruckslos. Sie tasteten Aomame rasch mit ihren Blicken ab und schauten auf die blaue Sporttasche neben ihr.
»Ist das alles, was Sie dabeihaben?«, fragte der mit dem rasierten Kopf.
»Ja«, sagte Aomame.
»Gut. Gehen wir. Sind Sie so weit?«, fragte er. Der mit dem Pferdeschwanz sah Aomame nur schweigend an.
»Natürlich«, sagte Aomame. Sie erriet, dass der Kleinere vermutlich der Ältere von beiden war und das Kommando hatte.
Gemessenen Schrittes durchquerte der Kahle vor ihr das Foyer bis zu den Aufzügen für die Gäste. Aomame folgte ihm, ihre Sporttasche in der Hand. Der mit dem Pferdeschwanz kam in etwa zwei Metern Abstand hinterher, sodass sie zwischen ihnen ging. Ein gut eingespieltes Team, dachte Aomame. Sie hielten sich kerzengerade, ihr Gang war kraftvoll und sicher. Der alten Dame zufolge waren sie versierte Karatekämpfer. Sie hätte sie wohl unmöglich außer Gefecht setzen können, wenn sie gegen beide gleichzeitig hätte antreten müssen. Als erfahrene Kampfsportlerin wusste Aomame das. Andererseits strahlte keiner der beiden jene überwältigende Kälte aus, die Tamaru umgab. Sie waren keine gänzlich übermächtigen Gegner. Sollte es zu einem Kampf kommen, müsste sie zuerst den kleinen Kahlkopf ausschalten, denn er war die Schaltzentrale. Wenn sie es nur noch mit dem Pferdeschwanz zu tun hätte, würde sie vielleicht mit knapper Not entkommen.
Die drei stiegen in den Aufzug. Der Pferdeschwanz drückte auf den Knopf für den 6. Stock. Der Kahle stand neben Aomame, der Pferdeschwanz hatte sich mit dem Gesicht zu ihnen in der diagonal gegenüberliegenden Ecke postiert. Alles ging wortlos vor sich. Die beiden waren völlig aufeinander eingespielt. Es war wie ein gelungenes Doubleplay zwischen einem Second Baseman und einem Shortstop.
Bei ihren Überlegungen spürte Aomame plötzlich, dass der Rhythmus ihres Atems und ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatten. Keine Angst, dachte sie. Ich bin die, die ich immer bin. Kaltblütig und hart . Alles wird gut laufen. Es gibt keine bösen Vorahnungen mehr.
Geräuschlos öffnete sich die Aufzugtür. Der Pferdeschwanz hielt den »Tür auf«-Knopf gedrückt, während der Kahle als Erster ausstieg. Erst als auch Aomame draußen war, nahm der Pferdeschwanz den Finger von dem Knopf und verließ den Aufzug. Der Kahle ging vorneweg den Gang entlang, Aomame folgte ihm, und der Pferdeschwanz bildete wie üblich das Schlusslicht. In dem weitläufigen Flur war kein Mensch. Es war unendlich still und unendlich sauber. Offenbar achtete man sehr darauf, dass jeder Winkel des Gebäudes den Anforderungen eines erstklassigen Hotels entsprach. Dass der Zimmerservice ein Tablett mit Geschirr vor einer Tür stehenließ, kam offenbar nicht vor. In den Aschenbechern vor den Aufzügen lag nicht eine einzige Zigarettenkippe. Die Blumen in den Vasen verströmten einen Duft wie soeben frisch geschnitten. Nach mehreren Flurwindungen machten die drei vor einer der Türen Halt. Der Pferdeschwanz
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