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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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schwarze Kleider geschlüpft waren. Ihre kostbaren, doch dezenten Schmuckstücke gierten danach, das schwache Licht zu reflektieren, wie Vampirvögel nach Blut. Auf einem Sofa in der Ecke thronte, voluminös und erschöpft wie ein betagtes Königspaar, das seine Glanzzeit hinter sich hat, ein älteres ausländisches Ehepaar.
    Aomame mit ihrer hellblauen Baumwollhose, der schlichten weißen Bluse, den weißen Turnschuhen und der blauen Sporttasche von Nike passte nicht so recht in diese traditionsreiche und bedeutungsvolle Umgebung. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein von einem Gast bestellter Babysitter, dachte sie, während sie in einem der großen Sessel wartete. Aber da kann man nichts machen. Schließlich mache ich hier keinen Anstandsbesuch. Die ganze Zeit hatte sie das schwache Gefühl, beobachtet zu werden . Doch obwohl sie sich immer wieder umschaute, konnte sie niemanden entdecken, der diesen Anschein erweckte. Egal, dachte sie. Wer gucken will, soll eben gucken.
    Als ihre Armbanduhr 18. 50 Uhr zeigte, erhob sie sich und ging auf die Toilette. Ihre Sporttasche nahm sie mit. Sie wusch sich die Hände mit Seife und vergewisserte sich vor dem großen fleckenlosen Spiegel, dass mit ihrem Äußeren alles in Ordnung war. Sie atmete mehrmals tief ein und aus. Noch nie hatte sie einen so großen Waschraum gesehen. Vermutlich war er größer als die Wohnung, in der sie bis jetzt gelebt hatte. »Das ist meine letzte Mission«, sagte sie leise zu ihrem Spiegelbild. Ich werde sie erfolgreich beenden und verschwinden. Unvermittelt, wie ein Geist. Heute bin ich noch hier. Morgen schon nicht mehr. In wenigen Tagen werde ich einen anderen Namen und ein anderes Gesicht haben.
    Sie kehrte ins Foyer zurück und setzte sich wieder in einen Sessel. Ihre Sporttasche, in der sich die kleine Pistole mit sieben Schuss Munition und die geschliffene Nadel für den Stich in den Nacken des Mannes befanden, stellte sie auf einen Tisch neben sich. Ich muss Ruhe bewahren, dachte sie. Es ist meine letzte und wichtigste Mission. Ich muss sein wie immer – kaltblütig und hart.
    Allerdings konnte sie nicht umhin zu bemerken, dass sie sich eben nicht in ihrem gewohnten Zustand befand. Sie bekam schlecht Luft, und auch das Tempo ihres Herzschlags beunruhigte sie. Sie schwitzte unter den Achseln. Ihre Haut prickelte. Das konnte nicht nur Nervosität sein. Ich habe irgendeine Vorahnung , dachte sie. Diese Vorahnung warnt mich. Klopft beständig an die Tür meines Bewusstseins. Es ist noch nicht zu spät, hau ab, vergiss alles .
    Am liebsten wäre Aomame dieser Warnung gefolgt. Hätte alles abgebrochen und wäre aus dem Hotelfoyer verschwunden. Dieser Raum hatte etwas Unheilvolles an sich. Ein Hauch von Tod lag über ihm. Ein stiller, dumpfer Hauch von unentrinnbarem Tod. Aber sie konnte jetzt nicht aufgeben und verschwinden. Das war nicht ihre Art.
    Es waren sehr lange zehn Minuten. Die Zeit schien überhaupt nicht zu vergehen. Sie saß in ihrem Sessel und versuchte ihre Atmung zu beherrschen. Die Foyergeister stießen unablässig weiter ihre dumpfen Laute aus. Geräuschlos bewegten sie sich über die dicken Teppiche, wie heimatlose Seelen auf der Suche nach einer Zuflucht. Das Klirren, mit dem eine Kellnerin ein Tablett mit Kaffeegeschirr absetzte, war das einzige definierbare Geräusch, das an Aomames Ohren drang. Und selbst ihm wohnte eine verdächtige Ambivalenz inne. Das war keine gute Entwicklung. Wenn sie weiter so aufgeregt war, würde sie im entscheidenden Augenblick versagen. Aomame schloss die Augen und murmelte beinahe unwillkürlich das Gebet, das sie, solange sie denken konnte, vor allen drei Mahlzeiten hatte aufsagen müssen. Sie erinnerte sich noch an jedes Wort, obwohl das alles so lange zurücklag.
    Vater unser im Himmel. Geheiligt werde Dein Name, Dein Königreich komme. Vergib uns unsere große Schuld. Gib uns Deinen Segen auf all unseren bescheidenen Wegen. Amen.
    Aomame musste widerwillig zugeben, dass dieses Gebet, das ihr so viele Qualen bereitet hatte, ihr nun eine Hilfe war. Der Klang der Worte beruhigte ihre Nerven, gebot ihrer Angst Einhalt und half ihr, ihre Atmung zu regulieren. Sie drückte die Finger auf beide Augenlider und wiederholte im Geist immer wieder diese Zeilen.
    »Frau Aomame?«, sprach eine jugendliche Männerstimme sie an.
    Sie öffnete die Augen und hob langsam den Kopf. Ihr Blick fiel auf den Inhaber der Stimme. Zwei junge Männer standen vor ihr. Beide trugen die gleichen dunklen Anzüge. An Stoff

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