1Q84: Buch 1&2
schönes Thema? Wie sieht es aus? Haben Sie darüber nachgedacht? Allmählich hätten wir gern eine endgültige Antwort.«
»Ich hatte Ihnen doch schon damals ganz klar gesagt, dass ich nicht will. Vielen Dank für das freundliche Angebot, aber augenblicklich fehlt es mir an nichts. Ich muss mich finanziell nicht einschränken und möchte meinen gegenwärtigen Lebensstil beibehalten.«
»Das heißt, Sie wollen keine Hilfe annehmen.«
»Einfach ausgedrückt – ja.«
»Das nenne ich eine bewundernswürdige Einstellung«, sagte Ushikawa und gab so etwas wie ein leichtes Räuspern von sich. »Er will es allein schaffen, sagt er, nicht an eine Organisation gebunden sein. Das kann ich gut verstehen. Wissen Sie, Herr Kawana, ich sage Ihnen das nur aus Sorge, denn die Welt ist schlecht. Man kann nie wissen, was einmal passiert. Deshalb braucht man unbedingt so etwas wie eine Rückversicherung. Etwas, auf das man im Notfall zurückgreifen kann, einen Windschirm sozusagen. Es kann sehr ungemütlich werden, wenn man so etwas nicht hat. Was ich sagen will, Herr Kawana: Sie haben im Moment nichts, worauf Sie sich stützen können. Aus Ihrem Umfeld wird sich niemand hinter Sie stellen, wenn es ernst wird. Schlimmstenfalls werden alle Sie im Stich lassen. Habe ich nicht recht? Sparst du in der Zeit, dann hast du in der Not, so sagt man. Es ist überaus wichtig, für schlechte Zeiten vorzusorgen. Dabei geht es nicht nur um Geld. Geld ist letztendlich nur ein Zeichen .«
»Es fällt mir schwer, Ihnen zu folgen«, sagte Tengo. Das instinktive Unbehagen, das er schon bei seiner ersten Begegnung mit Ushikawa empfunden hatte, stellte sich allmählich wieder ein.
»Ja, ich weiß. Sie sind noch jung und gesund, deshalb verstehen Sie diese Dinge noch nicht. Also ein Beispiel. Wenn man ein gewisses Alter überschritten hat, verwandelt sich das Leben zunehmend in einen ständigen Verlustprozess. Eins nach dem anderen gehen Dinge verloren, die Ihnen viel bedeuten. Es ist wie bei einem Kamm, der die Zinken verliert. Ihre körperlichen Fähigkeiten, Wünsche, Träume, Ideale, Überzeugungen oder auch Menschen, die Sie lieben, verschwinden nacheinander aus Ihrem Dasein. Sie verabschieden sich und gehen oder sind eines Tages ohne Ankündigung plötzlich verschwunden. Unwiederbringlich verloren. Sie werden auch keinen Ersatz mehr finden. Stattdessen bleiben Ihnen nichts als billige Prothesen. Das ist ziemlich hart. Manchmal reißt der Schmerz einen förmlich entzwei. Herr Kawana, Sie gehen auf die dreißig zu. Von nun an wird jeder Schritt Sie dem Reich der Dämmerung des Lebens näherbringen. Ja, auch Sie werden älter. Und auch Sie werden den Schmerz, den es bedeutet, etwas zu verlieren, allmählich begreifen. Ist es nicht so?«
Tengo überlegte, ob Ushikawa womöglich auf Kyoko Yasuda anspielte. Wusste er, dass sie sich einmal in der Woche heimlich bei ihm getroffen hatten und sie Tengo verlassen hatte?
»Sie scheinen sich in meinem Privatleben ja sehr gut auszukennen«, sagte Tengo.
»Aber nein«, sagte Ushikawa. »Ich stelle nur ganz allgemeine Betrachtungen über das Leben an. Wirklich. Ich weiß nichts über Ihr Privatleben.«
Tengo schwieg.
»Sie können unser Stipendium unbesorgt annehmen, Herr Kawana«, sagte Ushikawa mit einem Seufzer. »Offen gesagt befinden Sie sich im Augenblick wirklich in einer etwas kritischen Lage. Im Ernstfall würden wir Sie abschirmen, Ihnen sozusagen einen Rettungsring zuwerfen. Es könnte sein, dass Sie, wenn die Ereignisse fortschreiten, in der Falle sitzen.«
»In der Falle«, wiederholte Tengo.
»Genau.«
»Und was soll das konkret für eine Falle sein?«
Ushikawa machte eine kurze Pause. Dann fuhr er fort. »Mit Verlaub, Herr Kawana, es gibt Dinge, die sollte man besser nicht wissen. Gewisse Kenntnisse können einem Menschen den Schlaf rauben, und zwar für immer. Nicht mit grünem Tee zu vergleichen. Was ich sagen will, ist Folgendes: Denken Sie doch einmal nach. Sie drehen unwissentlich einen bestimmten Hahn auf, und etwas Bestimmtes kommt heraus. Etwas, das Einfluss auf die Menschen um Sie herum ausübt. Einen nicht gerade wünschenswerten Einfluss.«
»Hat das etwas mit den Little People zu tun?«
Es war ein Schuss ins Blaue gewesen, aber er brachte Ushikawa unvermittelt zum Verstummen. Sein Schweigen wog schwer wie ein schwarzer Stein auf dem Grund eines tiefen Gewässers.
»Herr Ushikawa, ich will genau wissen, worum es geht. Lassen Sie die Rätselspiele und reden Sie Klartext.
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