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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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blähte die von der Sonne gebleichten Vorhänge und bewegte die kleinen gelben Blüten der Topfpflanze. Schließlich wehte er die Tür auf und zog hinaus in den Flur. Der Geruch des Meeres war stärker als vorher, und in das Zirpen der Zikaden mischte sich das weiche Rauschen, mit dem die Nadeln der Kiefern einander berührten.
    »Ich habe eine Vision«, sprach Tengo mit ruhiger Stimme weiter. »Seit langem sehe ich immer wieder die gleiche Szene vor mir. Ich halte sie nicht für Einbildung, sondern für eine authentische Erinnerung. Ich bin anderthalb Jahre alt, und meine Mutter ist bei mir. Sie und ein junger Mann liegen sich in den Armen. Und dieser Mann bist nicht du . Wer es ist, weiß ich nicht. Nur, dass du es nicht bist. Es ist, als hätte diese Szene sich fest in meine Lider eingebrannt, und ich kann sie nicht loswerden. Warum, weiß ich nicht.«
    Der Vater sagte nichts. Doch seine Augen sahen eindeutig etwas anderes, etwas, das nicht da war. Keiner von beiden sprach. Tengo lauschte dem Rauschen des Windes, das plötzlich lauter geworden war. Er wusste nicht, ob sein Vater es hörte.
    »Würden Sie mir etwas vorlesen?«, fragte dieser nach langem Schweigen höflich. »Mir tun die Augen weh, deshalb kann ich nicht lesen. Ich kann der Schrift nicht lange folgen. Dort in dem Regal stehen Bücher. Bitte, wählen Sie aus, was Sie möchten.«
    Resigniert stand Tengo auf und überflog die Rücken der Bände. Etwa zur Hälfte handelte es sich um historische Romane. Unter anderem standen dort sämtliche Bände von Daibosatsu toge – »Der Pass des Großen Bodhisattva« –, einer endlos langen Samuraigeschichte über das Ende des Shogunats. Tengo verspürte nicht die geringste Lust, seinem Vater aus diesen alten Schinken in antiquierter Sprache vorzulesen.
    »Wenn es dir recht ist, würde ich dir gern die Geschichte von der Stadt der Katzen vorlesen«, sagte Tengo. »Aus einem Buch, das ich mitgebracht habe.«
    »Stadt der Katzen«, sagte sein Vater. Er schien über den Titel nachzudenken. »Ja, bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
    Tengo schaute auf die Uhr. »Nein, das macht mir nicht aus. Ich habe noch Zeit, bis mein Zug fährt. Ob sie dir gefällt, weiß ich nicht, sie ist ziemlich sonderbar.«
    Tengo zog das Buch aus seiner Tasche und begann zu lesen. Sein Vater saß in seinem Stuhl am Fenster und hörte zu, ohne seine Haltung einmal zu verändern. Tengo las langsam und mit gut verständlicher Stimme. Sooft er eine kurze Atempause machte, sah er seinem Vater ins Gesicht, konnte aber keine Reaktion entdecken. Er hätte auch nicht sagen können, ob seinem Vater die Geschichte gefiel oder nicht. Als er zu Ende gelesen hatte, saß der Vater reglos und mit geschlossenen Augen da. Es sah aus, als sei er eingeschlafen. Aber so war es nicht, er war nur tief in die Welt der Geschichte eingetaucht. Und es dauerte eine Weile, bis er wieder zu sich kam. Tengo wartete geduldig. Das nachmittägliche Licht wurde allmählich schwächer, und die Dämmerung senkte sich über die Landschaft. Noch immer bewegte der Wind vom Meer die Äste der Kiefern.
    »Gibt es diese Stadt der Katzen auch im Fernsehen?«, fragte sein Vater als Erstes. Wahrscheinlich aus beruflichem Interesse.
    »Die Geschichte wurde in den dreißiger Jahren in Deutschland geschrieben, zu der Zeit war Fernsehen noch nicht verbreitet. Aber Radio gab es.«
    »Ich war damals in der Mandschurei, da hatten wir kein Radio. Auch keinen Rundfunksender. Zeitungen gab es ganz selten, höchstens mal welche, die zwei Wochen alt waren. Nicht einmal zu essen hatten wir genug, Frauen auch nicht. Manchmal kamen Wölfe. Es war wie am Ende der Welt.«
    Sein Vater schwieg eine Weile, er schien über etwas nachzudenken. Vielleicht erinnerte er sich an das harte Leben, das er in seiner Jugend als Pionier in der Mandschurei geführt hatte. Doch die Erinnerung schien sofort wieder zu verschwimmen und vom Nichts verschluckt zu werden. Tengo konnte diese Regungen am Gesicht seines Vaters ablesen.
    »Ob die Katzen die Stadt gebaut haben? Oder Menschen? Und die Katzen haben sich später dort niedergelassen?«, fragte der Vater zur Fensterscheibe gewandt, als würde er mit sich selbst sprechen. Aber wahrscheinlich war die Frage an Tengo gerichtet.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Tengo. »Aber auf mich macht es den Eindruck, als wäre sie vor langer Zeit von Menschen gebaut worden, die aus irgendeinem Grund verschwunden sind. Sie könnten zum Beispiel an einer Seuche gestorben sein oder so

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