Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Grundsätze verfügt. Er hatte nie versucht, sich vor etwas zu drücken, und jammern hatte Tengo ihn auch nie gehört. Doch der Mann, der nun vor ihm saß, war nur noch eine leere Hülle. Er glich einem verlassenen Raum, in dem sich keine Wärme gehalten hatte.
    »Herr Kawana«, sagte die Schwester mit ihrer geübten lauten Stimme, an die die Patienten gewöhnt waren. »Herr Kawana, hallo, schauen Sie mal, wer da ist. Ihr Sohn.«
    Sein Vater wandte sich ihm noch einmal zu. Seine ausdruckslosen Augen erinnerten Tengo an zwei leere Schwalbennester, die unter einem Vordach hängengeblieben waren.
    »Hallo«, sagte Tengo.
    »Herr Kawana, Ihr Sohn ist aus Tokio gekommen, um Sie zu besuchen«, sagte die Schwester.
    Sein Vater sah Tengo nur wortlos ins Gesicht. Als versuche er, eine unverständliche, in einer Fremdsprache verfasste Bekanntmachung zu lesen.
    »Um halb sieben gibt es Essen«, sagte die Schwester zu Tengo. »Bis dahin können Sie tun, was Sie möchten.«
    Als die Krankenschwester fort war, ging Tengo nach kurzem Zögern zu seinem Vater und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Der Bezug war verblichen. Offenbar war er schon lange in Gebrauch, und das Holz war überall zerkratzt. Die Augen seines Vaters folgten Tengo.
    »Wie geht es dir?«, fragte Tengo.
    »Danke, und Ihnen?«, sagte sein Vater förmlich.
    Tengo wusste nicht, was er noch sagen sollte. Er nestelte an den drei oberen Knöpfen seines Jeanshemds herum. Sein Blick wanderte zwischen dem zum Schutz vor dem Seewind angepflanzten Wäldchen draußen vor dem Fenster und dem Gesicht seines Vaters hin und her.
    »Sie sind aus Tokio gekommen?«, fragte der Vater, der sich nicht an Tengo zu erinnern schien.
    »Ja, aus Tokio.«
    »Mit dem Expresszug, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte Tengo. »Bis Tateyama mit dem Express. Dann bin ich in einen normalen Zug umgestiegen und bis Chikura gefahren.«
    »Wollen Sie im Meer baden?«, fragte der Vater.
    »Ich bin es, Tengo. Tengo Kawana. Dein Sohn.«
    »Wo wohnen Sie in Tokio?«, fragte der Vater.
    »In Koenji. Bezirk Suginami.«
    Die drei Linien auf der Stirn des Vaters vertieften sich. »Viele Leute denken sich Lügen aus, weil sie ihre Rundfunkgebühren nicht zahlen wollen.«
    »Vater!«, rief Tengo. Es war schon sehr lange her, dass er dieses Wort zuletzt in den Mund genommen hatte. »Ich bin es, Tengo. Dein Sohn.«
    »Ich habe keinen Sohn«, sagte der Vater prompt.
    »Du hast keinen Sohn«, wiederholte Tengo mechanisch.
    Der Vater nickte.
    »Ja, aber was bin dann ich?«, fragte Tengo.
    »Sie sind nichts«, sagte der Vater. Und schüttelte zweimal barsch den Kopf.
    Tengo schluckte, für einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Auch sein Vater sagte nichts mehr. Beide spürten in der Stille den Wirrungen ihrer jeweiligen Gedanken nach. Nur die Zikaden schrillten unverdrossen weiter, so laut sie konnten.
    Der Mann sprach womöglich die Wahrheit. Sein Gedächtnis war zerstört und sein Bewusstsein getrübt. Aber Tengo spürte intuitiv, dass sein Mund die Wahrheit sagte.
    »Was bedeutet das?«, fragte er.
    »Dass Sie nichts sind«, wiederholte der Vater emotionslos. »Sie waren nichts, Sie sind nichts, und Sie werden auch weiterhin nichts sein.«
    Das reicht, dachte Tengo.
    Er wollte sich von dem Stuhl erheben, zum Bahnhof gehen und nach Tokio zurückfahren. Er hatte gehört, was er hören sollte. Aber er konnte nicht aufstehen. Wie der junge Mann, der auf seiner Reise in die Stadt der Katzen gelangt war. Er war neugierig. Er wollte den tieferen Sinn verstehen, der sich hinter dem Ganzen verbarg. Eine klarere Antwort hören. Natürlich lauerte darin auch eine gewisse Gefahr. Doch wenn er jetzt die Gelegenheit verpasste, würde er das Geheimnis seiner Geburt niemals lüften. Es würde für immer im Chaos versinken.
    Tengo reihte im Geist Worte aneinander und stellte sie wieder und wieder um. Dann sprach er sie aus, die kühne Frage, die er seit seiner Kindheit so viele Male hatte stellen wollen – und doch nie zu stellen gewagt hatte.
    »Heißt das, dass du im biologischen Sinn nicht mein Vater bist? Dass wir nicht blutsverwandt sind?«
    Der Vater schaute ihm wortlos ins Gesicht. Es war ihm nicht anzusehen, ob er die Bedeutung der Frage verstanden hatte.
    »Funkwellen zu stehlen ist eine rechtswidrige Handlung«, sagte der Vater und blickte Tengo in die Augen. »Kein Unterschied zum Diebstahl von Geld und Eigentum. Finden Sie nicht?«
    »Dem ist wohl so«, pflichtete Tengo ihm vorsichtig bei.
    Sein Vater nickte,

Weitere Kostenlose Bücher