Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Zimmer«, sagte sie. Tengo erhob sich. Als sie an einem großen Spiegel vorbeigingen, wurde ihm plötzlich klar, wie abgerissen er aussah. Über seinem T-Shirt mit der Aufschrift »Jeff Beck in Concert in Japan« trug er ein ausgeblichenes offenes Jeanshemd, dazu Chinos mit Pizzaflecken am Knie und abgewetzte khakifarbene Turnschuhe, die er schon länger nicht gewaschen hatte. Dazu die Baseballmütze. Wirklich nicht die passende Aufmachung für einen Dreißigjährigen, der zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder seinen Vater besuchte. Nicht einmal an ein Mitbringsel hatte er gedacht. Mehr als das Taschenbuch hatte er nicht dabei. Kein Wunder, dass die Schwester ihn empört angesehen hatte.
    Auf dem Weg durch den Garten zu dem Gebäude, in dem das Zimmer seines Vaters sich befand, erklärte ihm die Schwester, dass das Sanatorium in drei dem Schweregrad der Erkrankung entsprechende Trakte unterteilt war. Tengos Vater befinde sich gegenwärtig im »mittleren« Haus. Am Anfang bezögen die meisten Patienten das Gebäude für »leichtere« Fälle, wechselten dann in das für »mittlere« und schließlich in das für »schwere«. Wie bei einer Tür, die sich nur nach einer Seite öffnete, bewegten sie sich stets nur in eine Richtung, ein Zurück gab es nie. Nach dem Haus für schwere Fälle gab es keine weitere Station, auf die man noch hätte umziehen können. Außer dem Krematorium – das sagte die Schwester natürlich nicht, doch es ging aus ihren Andeutungen hervor.
    Sein Vater lebte in einem Zweibettzimmer, aber sein Zimmernachbar nahm gerade an einem Kurs teil und war nicht anwesend. Im Sanatorium wurde Töpfern, Gärtnern und Gymnastik angeboten. Man nannte das Reha-Kurse, obwohl keine Aussicht auf Genesung bestand. Ziel war es vor allem, das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen. Oder schlicht und einfach die Zeit herumzubringen. Tengos Vater saß auf einem Stuhl am offenen Fenster und schaute, die Hände parallel auf die Knie gelegt, ins Freie. Auf einem Tisch in der Nähe stand eine Topfpflanze mit vielen kleinen gelben Blüten. Der Fußboden war aus einem weichen Material, damit die Kranken sich nicht verletzten, falls sie einmal stürzten. Es gab zwei einfache Holzbetten, zwei Schreibtische und eine Kommode für Kleidung und andere Habseligkeiten. Neben jedem Schreibtisch stand ein kleines Regal. Die Vorhänge hatten sich in den Jahren, in denen sie der Sonne ausgesetzt waren, gelblich verfärbt.
    Tengo begriff nicht sofort, dass der alte Mann, der dort am Fenster saß, sein Vater war. Er war um eine Kleidergröße kleiner geworden. Nein, geschrumpft war wohl der bessere Ausdruck. Sein Haar war kurz und ganz weiß, wie ein reifbedeckter Rasen. Seine Wangen waren eingefallen, und seine tief in den Höhlen liegenden Augen wirkten viel größer als früher. Drei tiefe Kerben hatten sich in seine Stirn gegraben. Sein Kopf erschien asymmetrischer als früher, aber vielleicht fiel das wegen der kurzen Haare jetzt mehr auf. Die Augenbrauen waren lang und dicht. Auch aus seinen großen spitzen Ohren sprossen weiße Haare. Die Ohren wirkten ebenfalls größer, wie die Flügel einer Fledermaus. Nur die Nase hatte ihre Form nicht verändert. Im Gegensatz zu den Ohren war sie rund, etwas knollig und von rötlich-schwärzlichen Linien durchzogen. Die Mundwinkel hingen schlaff nach unten, und Speichel troff daraus hervor. Der Mund war leicht geöffnet, sodass man die unregelmäßigen Zähne sah. Die reglos am Fenster sitzende Gestalt seines Vaters erinnerte Tengo an ein spätes Selbstbildnis von van Gogh.
    Der Mann warf, als Tengo das Zimmer betrat, nur einen kurzen Blick in seine Richtung und starrte dann weiter auf die Landschaft vor dem Fenster. Aus der Entfernung betrachtet, glich er eher einer Art Maus oder einem Eichhörnchen. Er wirkte nicht gerade gepflegt, aber man sah, dass es sich durchaus um ein intelligentes Wesen handelte. Ohne jeden Zweifel war es sein Vater. Oder vielleicht sollte er sagen, das, was von ihm übrig war. Während der vergangenen beiden Jahre waren ihm offenbar die meisten seiner Fähigkeiten abhandengekommen. Er erinnerte an einen ohnehin schon ärmlichen Haushalt, dem der Gerichtsvollzieher erbarmungslos auch noch die letzten Besitztümer raubte. Der Vater, den Tengo gekannt hatte, war ein harter Mann gewesen, der unermüdlich arbeitete. Selbstbetrachtung und Phantasie waren ihm gänzlich fremde Größen gewesen, aber dennoch hatte er über eine eigene Ethik und einfache, aber feste

Weitere Kostenlose Bücher