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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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länger, und zum Schluss atmete der Mann lange aus, um die Luft vollständig herauszupressen. Wieder senkte sich tiefe Stille über den Raum.
    »Es ist Zeit«, sagte der Leibwächter zum dritten Mal.
    Der Kopf des Mannes bewegte sich langsam. Er schien sich dem Kahlen zuzuwenden.
    »Du kannst gehen«, sagte der Mann in einem klaren Bariton. Seine Stimme klang entschieden und hatte nichts Verschwommenes an sich. Er schien nun völlig wach zu sein.
    Der Kahle verbeugte sich leicht in der Dunkelheit und verließ den Raum ebenso ohne jede überflüssige Bewegung, wie er ihn betreten hatte. Die Tür schloss sich, und Aomame blieb allein mit dem Mann zurück.
    »Entschuldigen Sie, dass es so dunkel ist«, sagte er. Wahrscheinlich zu Aomame.
    »Das macht mir nichts aus«, entgegnete sie.
    »Ich muss es dunkel haben«, sagte der Mann mit weicher Stimme. »Aber haben Sie keine Angst. Es wird Ihnen kein Leid geschehen.«
    Aomame nickte schweigend. Dann fiel ihr ein, dass es ja dunkel war, und sie sagte: »Ich weiß.« Ihre Stimme kam ihr etwas schriller vor als gewöhnlich.
    Der Mann betrachtete Aomame eine Weile durch die Dunkelheit. Sie spürte seinen sezierenden und feinen Blick sehr stark. Statt »betrachten« war wohl »mustern« der passendere Ausdruck. Offenbar vermochte der Blick dieses Mannes ihren Körper völlig zu durchdringen. Sie hatte das Gefühl, nackt zu sein, nachdem ihr alles, was sie trug, jäh heruntergerissen worden war. Doch sein Blick lag nicht nur auf ihrer Haut, sondern drang bis in ihre Muskeln, Organe, sogar in ihre Gebärmutter vor. Dieser Mann kann im Dunkeln sehen , dachte sie. Er erkennt mehr, als das Auge sehen kann.
    »Im Dunkeln kann man besser sehen«, sagte der Mann, als hätte er Aomames Gedanken gelesen. »Doch wenn man zu viel Zeit in der Dunkelheit verbringt, fällt es schwer, in die Welt des Tageslichts zurückzukehren. Irgendwann muss man Schluss machen.«
    Er beobachtete Aomame noch eine Weile. In seinem Blick lag kein sexuelles Verlangen. Er musterte sie wie ein Objekt. Wie ein Schiffsreisender vom Deck aus eine Insel betrachtet. Aber dieser Reisende war kein gewöhnlicher Passagier. Er wollte alles über die Insel erfahren. Sein scharfer, erbarmungsloser Blick weckte in Aomame das Gefühl, dass ihr Körper unzureichend und unvollkommen war. Normalerweise empfand sie dies nicht so. Abgesehen von der Größe ihrer Brüste war sie sogar eher stolz auf ihren Körper. Sie stählte ihn täglich und pflegte ihn, um ihn attraktiv zu erhalten. Ihre Muskeln waren geschmeidig, und sie hatte kein Gramm Fett zu viel. Aber unter dem Blick dieses Mannes kam sie sich vor wie ein schäbiger alter Fleischsack.
    Wieder schien er ihre Gedanken zu lesen und hörte auf, sie mit seinem Blick zu durchbohren. Sie spürte, wie dessen Kraft plötzlich nachließ. Als ob man mit einem Schlauch den Rasen sprengte, und plötzlich drehte jemand das Wasser ab.
    »Entschuldigen Sie, dass ich Sie bemühe, aber würden Sie den Vorhang ein wenig aufziehen?«, sagte der Mann ruhig. »Ich kann Sie ja schwerlich im Stockdunkeln arbeiten lassen.«
    Aomame stellte ihre Sporttasche ab, ging zum Fenster und öffnete den dicken schweren Vorhang, indem sie an einer Schnur zog. Auch die weiße Spitzengardine dahinter öffnete sie einen Spalt. Das nächtliche Tokio ergoss sein Licht in den Raum. Der illuminierte Tokyo Tower, die Lichter der Stadtautobahn, die Scheinwerfer der nicht abreißenden Ströme von Autos und die Neonbeleuchtung hinter den Fenstern der Hochhäuser erhellten nun das Hotelzimmer. Nicht sehr stark, aber gerade genug, um die Einrichtung unterscheiden zu können. Für Aomame war es ein vertrautes Licht voller Assoziationen. Das Licht der Welt, in die sie gehörte. Aomame wurde wieder einmal klar, wie sehr sie es brauchte. Doch obwohl es so schwach war, schien es für die Augen des Mannes zu stark zu sein. Noch immer mit gekreuzten Beinen auf dem Bett sitzend, bedeckte er mit seinen großen Händen schützend das Gesicht.
    »Wird es so gehen?«, fragte Aomame.
    »Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, sagte der Mann.
    »Soll ich den Vorhang wieder etwas zuziehen?«
    »Nein, so geht es. Ich habe ein Problem mit der Netzhaut. Es dauert eine Weile, bis ich mich an das Licht gewöhnt habe. Gleich wird alles normal. Möchten Sie sich nicht so lange dort hinsetzen?«
    Ein Problem mit der Netzhaut, wiederholte Aomame bei sich. Menschen mit Netzhauterkrankungen liefen meist Gefahr, ihr Augenlicht zu

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