1Q84: Buch 1&2
was. Und dann haben sich die Katzen dort niedergelassen.«
Der Vater nickte. »Sobald ein Vakuum entsteht, muss man es füllen. Alle machen das.«
»Alle?«
»Genau«, bestätigte der Vater.
»Und welches Vakuum füllst du?«
Der Vater runzelte die Stirn. Seine starken hängenden Brauen verdeckten dabei fast seine Augen. »Weißt du das nicht?«, sagte er in leicht verächtlichem Ton.
»Ich weiß es nicht«, sagte Tengo.
Der Vater blähte die Nasenflügel und zog die Augenbrauen leicht in die Höhe. Diesen Ausdruck hatte er schon früher angenommen, wenn er etwas missbilligte. »Was einer nicht versteht, braucht man ihm auch nicht zu erklären, denn er wird es sowieso nicht verstehen, egal wie ausführlich man es erklärt. Was man ohne Erklärung nicht versteht, versteht man auch nicht mit.«
Tengo versuchte in der Miene seines Vaters zu lesen. Er hatte früher nie in solch seltsamen Andeutungen gesprochen, sich stets nur sehr konkret geäußert und alles sehr wörtlich genommen. Es war sein unerschütterlicher Grundsatz gewesen, nur zu reden, wenn es nötig war, und sich auch dann möglichst kurz zu fassen. Aber seinem Vater war nichts zu anzusehen.
»Ich verstehe. Jedenfalls füllst du irgendeine Leere «, sagte Tengo. »Und wer wird die Leere füllen, die du zurücklassen wirst ?«
»Du«, sagte der Vater schroff. Er hob den Zeigefinger und deutete energisch auf Tengo. »Ist das nicht beschlossene Sache? Ich fülle die Leere, die jemand geschaffen hat. Und du füllst an meiner Stelle die Leere, die ich hinterlassen werde. Es geht der Reihe nach.«
»Wie die Katzen die menschenleere Stadt.«
»Ja. Verloren wie die Stadt«, sagte er und betrachtete versunken seinen ausgestreckten Zeigefinger, als sei er ein besonders eigenartiger Gegenstand, der dort nicht hingehörte.
»Verloren wie die Stadt«, wiederholte Tengo die Worte seines Vaters.
»Die Frau, die dich geboren hat, ist nirgendwo mehr.«
» Nirgendwo . Verloren wie die Stadt. Heißt das, dass sie tot ist?«
Der Vater antwortete nicht.
Tengo seufzte. »Und wer ist mein Vater?«
»Nichts als Leere. Deine Mutter hat sich mit der Leere vereinigt und dich geboren. Ich habe diese Leere gefüllt.«
Nach diesen Worten schloss der Vater die Augen und schwieg.
»Mit der Leere vereinigt?«
»Ja.«
»Und du hast mich großgezogen. So war es, oder?«
»Deshalb habe ich es wohl gesagt«, erwiderte der Vater, nachdem er sich einmal förmlich geräuspert hatte. Als habe er einem unverständigen Kind eine einfache Wahrheit gepredigt. »Was einer ohne Erklärung nicht versteht, versteht er auch nicht, wenn man es ihm erklärt.«
»Ich bin also aus der Leere entstanden?«, fragte Tengo.
Keine Antwort.
Tengo faltete die Hände im Schoß und sah seinem Vater noch einmal ins Gesicht. Dieser Mann ist kein leeres Wrack, dachte er. Und auch nicht nur ein leerer Raum. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut, der mit seinem sturen, engstirnigen Denken und seinen düsteren Erinnerungen auf einem Stückchen Land an einem gewaltigen Ozean überlebt hatte. Gezwungen, mit der Leere zu leben, die sich allmählich in ihm ausbreitete. Im Augenblick lagen sein Gedächtnis und die Leere noch im Krieg miteinander. Doch bald würden die ihm noch verbliebenen Erinnerungen unweigerlich und vollständig von der Leere verschlungen werden. Es war nur eine Frage der Zeit. Ob diese Leere, auf die er sich nun zubewegte, die gleiche war wie die, aus der Tengo geboren worden war?
Tengo glaubte zu hören, wie sich das ferne Meeresrauschen beim Sonnenuntergang mit dem Wind verband, der sich in den Kronen der Kiefern fing. Doch vielleicht war es auch nur eine Illusion.
KAPITEL 9
Aomame
Der Preis der Gnade
Kaum hatte Aomame das Zimmer betreten, schloss der Kahle die Tür hinter ihr. Es war stockdunkel. Die schweren dichten Vorhänge waren zugezogen und alle Lichter ausgeschaltet. Durch einen Spalt in den Vorhängen drang ein winziger Lichtstrahl, der die Dunkelheit jedoch eher zu betonen schien.
Wie beim Betreten eines Planetariums oder eines Kinosaals, in dem der Film schon läuft, dauerte es eine Weile, bis Aomames Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ihr Blick fiel als Erstes auf die Anzeige einer elektrischen Uhr, die auf einem niedrigen Tischchen stand. Ihre grünen Zahlen zeigten an, dass es zwanzig Minuten nach sieben war. Gleich darauf erkannte sie an der gegenüberliegenden Wand ein großes Bett. Die Elektrouhr stand an seinem Kopfende. Verglichen mit dem Salon
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