1Q84: Buch 1&2
offenbar zufrieden.
»Die elektrischen Wellen fallen schließlich nicht kostenlos vom Himmel wie Regen oder Schnee«, fügte er hinzu.
Tengo blickte schweigend auf die Hände des Vaters, die gesittet auf seinen Knien lagen. Die rechte Hand auf dem rechten, die linke auf dem linken Knie. Sie rührten sich nicht. Kleine dunkle Hände. Es schien, als habe die Sonnenbräune seinen Körper bis ins Innere durchdrungen. Die Hände eines Menschen, der viele Jahre im Freien gearbeitet hatte.
»Meine Mutter ist gar nicht an einer Krankheit gestorben, als ich noch klein war, oder?«, fragte Tengo langsam und jedes Wort betonend.
Der Vater antwortete nicht. Sein Ausdruck änderte sich nicht, und auch seine Hände blieben unbeweglich. Er sah Tengo an wie einen Fremden.
»Meine Mutter hat dich verlassen. Und mich bei dir zurückgelassen. Wahrscheinlich wegen eines anderen Mannes. Stimmt doch, oder?«
Der Vater nickte. »Funkwellen zu stehlen ist nicht gut. Man kann nicht einfach tun, was man will, und ungestraft davonkommen.«
Tengo hatte das Gefühl, dass er die Frage genau verstanden hatte, aber nicht offen darüber sprechen wollte.
»Vater«, sagte Tengo bittend. »Vielleicht bist du ja in Wirklichkeit gar nicht mein Vater, aber ich will dich so nennen. Ich habe dich oft gehasst. Das weißt du doch? Aber wenn du nicht mein richtiger Vater wärst, nicht mein Blutsverwandter, hätte ich keinen Grund mehr, dich zu hassen. Ich weiß nicht, ob ich je Sympathie für dich empfinden kann, aber ich möchte dich wenigstens verstehen. Ich habe mich immer danach gesehnt, die Wahrheit zu erfahren. Wer ich bin, woher ich komme. Das ist alles, was ich wissen will. Aber es hat mir nie jemand gesagt. Wenn du mir jetzt die Wahrheit sagst, werde ich dich nicht mehr hassen oder ablehnen. Ich wäre sehr erleichtert, wenn ich aufhören könnte, dich zu hassen.«
Der Vater sah ihn unverändert stumm und ausdruckslos an. Dennoch schien in seinen leeren Schwalbennesteraugen etwas aufzuleuchten.
»Ich bin nichts «, sagte Tengo. »Du sagst es. Ich bin wie ein Mensch, den man ganz allein in der Nacht auf dem Ozean ausgesetzt hat und der nun dort umhertreibt. Wenn ich die Hände ausstrecke, ist niemand da. Wenn ich schreie, kommt keine Antwort. Ich habe nirgendwo eine Bindung. Außer dir gibt es niemanden, den ich als meine Familie bezeichnen könnte. Aber du willst nicht ein einziges Wort sagen und hältst an deinem Geheimnis fest. Von Tag zu Tag geht mehr von deinem Gedächtnis verloren, während deines ständigen Auf und Ab hier in dieser Stadt am Meer. Und damit auch von der Wahrheit über mich. Ohne diese Wahrheit bin ich nichts und kann auch in der Zukunft nichts werden. Auch das ist genau, wie du sagst.«
»Wissen ist ein wertvolles Allgemeingut«, leierte sein Vater. Doch seine Stimme war ein wenig leiser geworden. Als habe jemand im Hintergrund einen Lautstärkeregler betätigt. »Dieses Gut muss vermehrt und sorgfältig genutzt werden. Damit wir eine reiche Ernte an die nächste Generation weitergeben können. Dafür braucht NHK die Rundfunkgebühren von allen …«
Was er da sagt, ist wie ein Mantra für ihn, dachte Tengo. Durch dessen ständiges Herunterbeten er sich schützt. Ich muss diesen zähen Bann durchbrechen. Den Menschen aus Fleisch und Blut aus seiner Festung hervorlocken.
Er unterbrach seinen Vater. »Was war meine Mutter für ein Mensch? Wohin ist sie gegangen? Und was ist aus ihr geworden?«
Der Mann verstummte plötzlich. Er hatte den Faden seiner Litanei verloren.
Tengo fuhr fort. »Ich bin es leid, mein Leben damit zu verbringen, jemanden abzulehnen, zu hassen oder zu verfluchen. Und ich bin es leid, niemanden lieben zu können. Ich habe keinen einzigen Freund. Nicht einen einzigen . Ich kann ja nicht einmal mich selbst lieben. Warum kann ich das nicht? Weil ich auch niemand anderen lieben kann. Ein Mensch lernt, sich selbst zu lieben, indem er geliebt wird und wiederliebt. Verstehst du, was ich sage? Wer sich selbst nicht liebt, kann auch niemand anderen lieben. Nein, ich will dir nicht die Schuld dafür geben. Wenn man es sich genau überlegt, bist du ja selbst ein Opfer. Wahrscheinlich weißt auch du nicht, wie man sich selbst liebt. Oder?«
Der Vater hüllte sich weiter in Schweigen. Seine Lippen blieben fest verschlossen. An seiner Miene war nicht zu erkennen, wie viel er von Tengos Rede verstanden hatte. Tengo verstummte und sank in seinen Stuhl. Durch das geöffnete Fenster wehte der Wind ins Zimmer. Er
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