Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Tengo war an strenge Vorsichtsmaßnahmen gewöhnt.
    Er versuchte mit aller Gewalt an etwas anderes zu denken, aber im Grunde war er außerstande, überhaupt zu denken. Er befand sich mitten in einem Chaos, und in diesem Chaos schien die Zeit stillzustehen. Aber die Zeit kann nicht stillstehen, dachte er. Das ist theoretisch unmöglich. Vermutlich war sie nur ins Schlingern geraten und verlief nun ungleichmäßig. Über längere Zeiträume gesehen, verstrich die Zeit stets in einer bestimmten Geschwindigkeit. Daran bestand kein Zweifel. Handelte es sich aber um einzeln herausgelöste Abschnitte, konnte es zu Unregelmäßigkeiten kommen. In zeitlich begrenzten losen Momenten wie diesem hatten der chronologische Ablauf und die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen kaum noch Gültigkeit.
    »Tengo«, sagte Fukaeri. Es war das erste Mal, dass sie ihn beim Namen nannte. »Tengo«, wiederholte sie. Als würde sie die Aussprache einer fremdsprachlichen Vokabel üben. Tengo fragte sich, warum sie plötzlich seinen Namen benutzte. Dann beugte sie sich langsam vor, näherte sich seinem Gesicht und legte ihre Lippen auf seine. Sie öffnete sie halb und ließ ihre weiche Zunge in Tengos Mund gleiten. Eine wohlriechende Zunge. Sie forschte hartnäckig nach einem dort verborgenen geheimen Code, Worten, die nicht zu Worten wurden. Tengos Zunge reagierte unbewusst auf ihre Bewegungen. Wie zwei gerade aus dem Winterschlaf erwachte junge Schlangen auf einer Frühlingswiese, die einander züngelnd beschnupperten, sich ineinander verflochten und gierig verschlangen.
    Fukaeri streckte ihre rechte Hand aus und umschloss Tengos linke. Sie drückte sie fest, und ihre kleinen Nägel gruben sich in seine Handfläche. Sie beendete den leidenschaftlichen Kuss und richtete sich auf. »Mach die Augen zu.«
    Tengo gehorchte. Als er die Augen geschlossen hatte, befand er sich in einem halbdunklen Raum von großer Tiefe. Extremer Tiefe. Er schien sich bis zum Mittelpunkt der Erde zu erstrecken. Es herrschte ein diffuses Licht, das ihn an eine Abenddämmerung erinnerte. Die liebevolle, wehmütige Dämmerung am Ende eines langen Tages. Zahllose feine Teilchen schwebten in ihrem Schein. Vielleicht war es Staub. Oder Blütenstaub. Oder irgendetwas anderes. Kurz darauf begann der Raum zu schrumpfen. Das Licht wurde heller, und seine Umgebung nahm zunehmend sichtbare Gestalt an.
    Unversehens war Tengo wieder zehn Jahre alt und stand in dem alten Klassenzimmer. Alles war ganz real – die Zeit, der Ort, sein zehnjähriges Ich und das Licht. Er atmete die authentische Luft mit ihrem Geruch nach gebeiztem Holz und kreidegetränktem Tafelschwamm. Nur er und das Mädchen waren noch im Raum. Kein anderes Kind war in der Nähe. Rasch und kühn nutzte sie die günstige Gelegenheit. Vielleicht hatte sie schon die ganze Zeit auf eine Chance wie diese gewartet. Jedenfalls stand sie plötzlich vor ihm, streckte ihre rechte Hand aus und ergriff seine linke. Dabei sah sie ihm die ganze Zeit direkt in die Augen.
    Sein Mund wurde trocken. Jede Feuchtigkeit schien daraus verschwunden zu sein. Alles ging so schnell, dass er keine Ahnung hatte, was er tun oder sagen sollte. Er stand einfach da, seine Hand in der des Mädchens. Bald verspürte er ein sanftes, aber intensives Pochen in der Lendengegend. Es war ein ihm bisher unbekanntes Gefühl, das eine gewisse Ähnlichkeit mit fernem Meeresrauschen hatte. Zugleich drangen auch reale Geräusche durch das offene Fenster zu ihm. Das Geschrei der spielenden Kinder, die dumpfen Bolztöne vom Fußball, der Abschlag beim Baseball oder Softball. Das schrille, empörte Kreischen eines Mädchens aus den unteren Klassen und das unbeholfene Fiepen des Blockflötenorchesters, das gerade das Lied von den »Pflanzen im Garten« probte. Der normale Unterricht war beendet.
    Tengo hätte den Druck ihrer Hand gern mit gleicher Stärke erwidert. Aber er war nicht imstande dazu. Die Kraft in ihrer Hand war zu groß. Außerdem konnte er sich nicht mehr bewegen. Vermochte aus unerfindlichen Gründen keinen Finger zu rühren. Er war wie gebannt.
    Tengo hatte das Gefühl, dass die Zeit stillstand. Er lauschte dem ruhigen Fluss seines eigenen Atems. Das Meeresrauschen dauerte an. Unversehens verstummten alle realen Geräusche. Das Pochen in seinen Lenden ging in eine andere, bestimmendere Form über, war nun von einer gewissen Taubheit begleitet. Diese wurde zu einer Art Puder, der sich in das rote warme Blut mischte und von seinem Herzen durch die

Weitere Kostenlose Bücher