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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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seiner Brust verschwunden war, meldete sich stattdessen in einem imaginären Teil nahe seinem Herzen ein angenehm dumpfer Schmerz.
    Aomame, dachte Tengo. Ich muss Aomame wiedersehen. Ich muss endlich anfangen, sie zu suchen. Es ist so offensichtlich. Wieso bin ich nicht schon vorher darauf gekommen? Sie hat mir dieses Päckchen gegeben. Warum habe ich es so vernachlässigt und nie geöffnet? Tengo wollte den Kopf schütteln, aber es ging nicht. Sein Körper hatte sich noch nicht wieder von der Lähmung erholt.
    Kurze Zeit später kehrte Fukaeri, in ein Badehandtuch gewickelt, ins Schlafzimmer zurück und setzte sich auf die Bettkante.
    »Die Little People haben das Toben eingestellt«, erklärte sie wie ein abgebrühter, aufmerksamer Frontberichterstatter. Und beschrieb mit dem Finger rasch einen kleinen Kreis in der Luft. Es war ein schöner vollendeter Kreis, wie ihn vielleicht ein italienischer Renaissancemaler an die Wand einer Kirche gemalt hätte. Ein Kreis ohne Anfang und ohne Ende, der einen Moment lang in der Luft schwebte. »Sie haben aufgehört.«
    Mit diesen Worten nahm sie das Badehandtuch ab und blieb, ohne Anstalten zu machen, sich etwas anzuziehen, eine Weile nackt vor dem Bett stehen. Als würde sie ihren noch feuchten Körper in aller Ruhe ganz natürlich an der reglosen Luft trocknen lassen. Mit ihren straffen Brüsten und ihrem haarlosen Unterleib bot sie einen wunderschönen Anblick.
    Schließlich bückte sie sich nach dem zu Boden gefallenen Schlafanzug und zog ihn ohne Unterwäsche wieder an. Knöpfte ihn zu und verknotete die Schnur am Bauch. Gedankenverloren schaute Tengo ihr im Halbdunkel zu, als würde er ein Insekt bei der Metamorphose beobachten. Der Pyjama war ihr viel zu groß, aber gerade deshalb stand er ihr ausnehmend gut. Sie schlüpfte zu ihm in das schmale Bett, rückte sich zurecht und legte den Kopf an seine nackte Schulter, wo er ihr kleines Ohr spüren konnte. Ihr warmer Atem streifte seinen Hals. Währenddessen wich allmählich die Lähmung aus seinem Körper, wie die Flut sich zurückzieht, wenn es Zeit dazu ist.
    Die Luft war noch feucht, aber nicht klebrig oder stickig. Draußen vor dem Fenster begannen Insekten zu zirpen. Tengos Erektion war nun völlig abgeebbt, und sein Penis versank wieder in seinem friedlichen Schlummer. Die Dinge hatten eine entsprechende Stufe erreicht, waren ins Rollen gekommen, und der Kreis schien sich endlich geschlossen zu haben. Ein vollkommener Kreis war in die Luft gezeichnet worden. Die Tiere verließen die Arche und breiteten sich auf der guten alten Erde aus. Jedes Pärchen kehrte an seinen angestammten Ort zurück.
    »Wir sollten schlafen«, sagte sie. »Tief schlafen.«
    Tief schlafen, dachte Tengo. Schlafen und wieder aufwachen. Wie die Welt wohl am nächsten Morgen aussehen würde?
    »Das weiß niemand«, las Fukaeri seine Gedanken.

KAPITEL 15
    Aomame
    Und jetzt beginnt die Geisterstunde
    Aomame nahm eine Decke aus dem Schrank und deckte den Körper des großen Mannes zu. Noch einmal legte sie die Finger an seinen Hals, um sich zu vergewissern, dass sein Herz endgültig aufgehört hatte zu schlagen. Der Mensch, der für einige der »Leader« gewesen war, befand sich bereits in einer anderen Welt. In welcher, wusste Aomame nicht. Sicher war jedoch, dass es sich nicht um die des Jahres 1Q84 handelte. Hier hatte er sich bereits in etwas verwandelt, das man gemeinhin als Leiche bezeichnet. Mit einem leichten Erschauern, als fröstle ihn ein wenig, und ohne den leisesten Ton von sich zu geben, hatte der Mann die Grenze vom Leben zum Tod überschritten. Ohne dass auch nur ein Tropfen Blut geflossen war. Nun lag er, von allen Schmerzen befreit, bäuchlings auf der Yogamatte und war tot. Wie immer hatte Aomame rasch und präzise gearbeitet.
    Aomame versenkte die Spitze ihres Eispicks wieder in dem Korken, legte beides in das Hartschalenetui und verstaute es in ihrer Sporttasche. Dann nahm sie die Heckler & Koch aus dem Kunststoffbeutel und steckte sie hinten in den Bund ihrer Trainingshose. Sie war geladen und entsichert. Es beruhigte sie, die Härte des Metalls in ihrem Rücken zu spüren. Sie ging ans Fenster und zog die dicken Vorhänge zu. Es wurde wieder dunkel im Raum.
    Sie nahm die Sporttasche und ging zur Tür. Die Hand am Türknauf, drehte sie sich noch einmal um und warf einen Blick auf die in der Dunkelheit liegende massige Gestalt des Mannes. Er sah aus, als schliefe er. Genau wie zu Anfang. Sie war die Einzige auf der Welt, die

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