1Q84: Buch 1&2
nicht mehr.
KAPITEL 19
Aomame
Wenn die Daughter erwacht
Obwohl es sich bei Die Puppe aus Luft um eine ausgesprochen phantastische Geschichte handelte, war sie leicht zu lesen. Stilistisch wurde die Erzählstimme eines zehnjährigen Mädchens nachgeahmt. Es gab keine schwierigen Wörter, keine verzwickte Logik, keine wortreichen Erläuterungen und keine gewählten Ausdrücke. Alles wurde von Anfang bis Ende aus der Perspektive des Mädchens erzählt. Die Sprache war leicht verständlich, präzise, mitunter klangvoll, und es wurde so gut wie nichts erklärt. Das Mädchen erzählte einfach nur flüssig, was es mit eigenen Augen gesehen hatte. Auch eingeschobene Reflexionen über die Bedeutung der Ereignisse kamen nicht vor. »Was passiert da eigentlich?« oder »Was bedeutet das wohl?« waren Fragen, die das Mädchen sich nicht stellte. Es erzählte in einem gemächlichen, aber angemessenen Tempo. Der Leser übernahm seine Perspektive und passte sich seinem Schritt an. Vollkommen leicht und natürlich. Und ehe er sich’s versah, hatte er eine andere Welt betreten. Eine Welt, die nicht die seine war . Die Welt, in der die Little People aus Luft eine Puppe spannen.
Der Stil machte bereits auf den ersten zehn Seiten großen Eindruck auf Aomame. Wenn Tengo ihn geschaffen hatte, besaß er tatsächlich schriftstellerisches Talent. Der Junge, den Aomame gekannt hatte, war eine Art Mathematikgenie gewesen. In der Schule hatte er als Wunderkind gegolten, weil er Aufgaben, die selbst für Erwachsene zu schwierig waren, ohne jede Mühe gelöst hatte. Auch in den anderen naturwissenschaftlichen Fächern waren seine Noten hervorragend gewesen. Seine Leistungen hatten die der anderen Kinder um Längen übertroffen. Außerdem war er sehr groß und gut in Sport gewesen. Allerdings konnte Aomame sich nicht erinnern, dass er auch im Aufsatz besonders geglänzt hatte. Vielleicht hatte dieses Talent sich damals noch im Schatten der Mathematik verborgen und war nicht aufgefallen.
Oder er hatte einfach nur das übernommen, was das Mädchen erzählt hatte. Und sein Anteil an der stilistischen Originalität des Buches war gar nicht so groß. Aber eigentlich hatte sie nicht diesen Eindruck. Obgleich der Stil auf den ersten Blick schlicht und unverschlüsselt wirkte, wurde bei genauerem Lesen deutlich, wie sorgfältig berechnet und präzise er war. Kein Wort war zu viel; zugleich stand alles Nötige da. Ungeachtet des knappen Ausdrucks waren die Beschreibungen akkurat und nuancenreich. Und vor allem war in den Sätzen eine Art vollkommener Harmonie spürbar. Der Leser konnte, selbst wenn er nicht laut las, ihren Wohllaut deutlich wahrnehmen. Kein siebzehnjähriges Mädchen konnte solche geschmeidigen und natürlichen Sätze schreiben.
Nach diesen Überlegungen setzte Aomame ihre Lektüre aufmerksam fort.
Die Heldin war ein zehnjähriges Mädchen, das einer kleinen Gemeinschaft in den Bergen angehörte. Seine Mutter und sein Vater lebten ebenfalls dort. Geschwister hatte es nicht. Da das Mädchen bald nach seiner Geburt an diesen Ort gekommen war, wusste es kaum etwas über die äußere Welt. In der Gemeinschaft gingen alle einem bestimmten Tagwerk nach, und die drei Familienmitglieder hatten kaum Gelegenheit, einander zu sehen und in Ruhe miteinander zu sprechen. Dennoch verstanden sie sich gut. Tagsüber besuchte das Mädchen eine örtliche Grundschule, und die Eltern waren hauptsächlich mit der Landwirtschaft beschäftigt. Wenn sie Zeit hatten, arbeiteten auch die Kinder auf den Feldern.
Die Menschen in der Gemeinschaft lehnten die Zustände in der Welt draußen ab. Ihre eigene Gemeinschaft sei, wie sie nimmermüde betonten, eine schöne, einsame Insel inmitten des kapitalistischen Ozeans und ein Bollwerk. Das Mädchen wusste nicht, was Kapitalismus (manchmal sprachen sie auch von Materialismus) war. Doch aus dem verächtlichen Tonfall, in dem die Leute diese Wörter aussprachen, schloss es, dass es sich um einen unwürdigen Zustand handelte, der aus irgendeinem Grund widernatürlich und wider rechtlich war. Das Mädchen lernte, dass es, um seinen Leib und seine Gedanken rein zu halten, möglichst nicht mit der äußeren Welt in Beziehung treten dürfe. Andernfalls laufe es Gefahr, verseucht zu werden.
Die Gemeinschaft setzte sich aus fünfzig vergleichsweise jungen Männern und Frauen zusammen, die zwei lose Gruppen bildeten. Das Ziel der einen war eine Revolution, die anderen strebten nach Frieden. Die Eltern des Mädchens
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