Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
hassten und bekämpften. Beide hätten schwerwiegende Probleme, und so sei die Welt insgesamt auf einen falschen Weg geraten. Der Kommunismus sei eine bedeutende Ideologie, die hohe Ideale vertrat, aber im Lauf der Zeit durch eigensüchtige Politiker verfälscht worden war. Man zeigte den Kindern eine Fotografie von einem dieser »eigensüchtigen Politiker«, und der Mann mit der großen Nase und dem dicken schwarzen Schnurrbart war für das Mädchen der König aller Teufel.
    In der Gemeinschaft gab es keine Fernsehgeräte, auch Radios waren außer an bestimmten Orten nicht gestattet. Zeitungen und Zeitschriften gab es ebenfalls nur begrenzt. Für wichtig erachtete Nachrichten wurden beim Abendessen in der »Versammlungshalle« mündlich verkündet. Auf jede reagierten die versammelten Personen mit Jubelrufen oder Missbilligungsbekundungen. Die Schreie der Empörung überwogen die Freudenrufe stets um ein Vielfaches. So weit die Medienerfahrungen des Mädchens. Es hatte noch nie in seinem Leben einen Film gesehen. Kein Comic-Heft gelesen. Allerdings war es erlaubt, klassische Musik – aber nur diese – zu hören. In der Versammlungshalle gab es eine Stereoanlage und zahlreiche Schallplatten, die wohl irgendjemand mitgebracht hatte. In seiner Freizeit hörte das Mädchen Symphonien von Brahms, Klavierstücke von Schumann, Kirchenmusik und Stücke für Tasteninstrumente von Bach. Die Musik wurde zu seinem kostbarsten und nahezu einzigen Vergnügen.
    Eines Tages erhielt das Mädchen eine Bestrafung. Man hatte ihm befohlen, sich eine Woche lang morgens und abends um die Ziegen der Gemeinschaft zu kümmern, doch über ihren Schularbeiten und den anderen Aufgaben hatte sie dies versäumt. Am Morgen zuvor war entdeckt worden, dass die älteste – und bereits erblindete – Ziege kalt und steif war. Sie war tot. Zur Strafe wurde das Mädchen für zehn Tage aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.
    Die Mitglieder hatten dieser Ziege eine besondere Bedeutung zugeschrieben, aber sie war sehr alt gewesen, und eine Krankheit – welche Krankheit, wusste man nicht – hatte ihren ausgezehrten Körper in den Klauen gehalten. Ob sich jemand um sie kümmerte oder nicht, es war nicht zu erwarten, dass sie genas. Ihr Ableben war nur eine Frage der Zeit gewesen. Doch das milderte die Strafe nicht, die über das Mädchen verhängt wurde, denn es hatte – abgesehen vom Tod der Ziege – eine ihm auferlegte Pflicht vernachlässigt. Die Isolation war eine der schwersten Strafen in der Gemeinschaft.
    Man sperrte das Mädchen also zusammen mit der toten blinden Ziege in einen kleinen alten Speicher aus Lehm, der »Raum der Selbstkritik« genannt wurde. Wer gegen die Regeln verstieß, erhielt die Gelegenheit, dort über seine Verfehlungen nachzudenken. Während der Isolationsstrafe durfte niemand mit dem Mädchen sprechen. Zehn Tage lang musste es in vollkommener Stille dort ausharren. Es bekam ein Minimum an Wasser und Nahrung, doch in dem Speicher war es auch dunkel, kalt und feucht. Und da war der Gestank der toten Ziege. Die Tür war von außen verschlossen, und in einer Ecke stand ein Eimer für seine Notdurft. Hoch oben an einer Wand gab es ein kleines Fenster, durch das Sonne und Mond hineinschienen. Sofern es nicht bewölkt war, konnte man sogar ein paar Sterne sehen. Sonst gab es kein Licht. Zitternd verbrachte das Mädchen die Nächte auf der harten Matratze, die man auf dem Holzboden ausgebreitet hatte, zugedeckt nur mit zwei alten Decken. Es war schon April, aber in den Bergen waren die Nächte noch kalt. Im Dunkeln reflektierten die Augen der toten Ziege den Schein der Sterne und leuchteten. Das Mädchen konnte vor Angst kaum schlafen.
    In der dritten Nacht öffnete sich das Maul der Ziege. Es wurde von innen aufgedrückt. Heraus kletterten ein paar kleine Gestalten. Insgesamt sechs. Zuerst waren sie nur ungefähr zehn Zentimeter groß, aber sobald sie auf dem Boden standen, wurden sie rasch größer, so wie Pilze nach einem Regen in die Höhe schießen. Am Ende brachten sie es jedoch höchstens auf etwa sechzig Zentimeter. Sie seien die »Little People«, sagten sie.
    Wie bei Schneewittchen und den sieben Zwergen , dachte das Mädchen. Ihr Vater hatte ihr die Geschichte vorgelesen, als sie klein war. Aber dazu fehlte einer.
    »Wenn dir sieben besser gefällt, können wir auch sieben sein«, sagte einer, der eine tiefe Stimme hatte. Aus irgendeinem Grund schienen die Little People die Gedanken des Mädchens lesen zu können. Und

Weitere Kostenlose Bücher