1Q84: Buch 1&2
regelmäßigen Untersuchungen, die wir hier durchführen, waren seine Ergebnisse immer recht gut. Wir haben nicht den geringsten Hinweis auf eine ernsthafte Erkrankung gefunden.«
Hier schwieg der Arzt kurz.
»Allerdings«, fuhr er fort, »hat der Zustand, in dem er sich in den letzten paar Tagen befindet, tatsächlich Ähnlichkeit mit Altersschwäche, wie Sie es genannt haben. Die Werte sämtlicher Körperfunktionen sind stark abgesunken, und sein Lebenswille scheint immer schwächer zu werden. Im Allgemeinen tritt ein derartiger Zustand erst bei Menschen auf, die älter als Mitte achtzig sind. Etwa in diesem Alter ermüdet bei den meisten die Lebenskraft, und es kommt durchaus vor, dass der Organismus seinen Dienst verweigert. Aber im Augenblick verstehe ich noch nicht, warum das bei Ihrem Vater passiert. Er ist ja, wie gesagt, noch zu jung dazu.«
Tengo biss sich nachdenklich auf die Lippe.
»Wann hat dieses Koma eingesetzt?«, fragte er.
»Vor drei Tagen«, sagte der Arzt.
»Also ist er seit drei Tagen kein einziges Mal aufgewacht?«
»Nein.«
»Und seine Körperfunktionen werden immer schwächer.«
»Die Lage ist nicht dramatisch, aber seine Lebenskraft schwindet langsam, aber sicher dahin«, sagte der Arzt. »Es ist wie bei einem Zug, der seine Geschwindigkeit drosselt, wenn er auf einen Bahnhof zufährt, wenn Sie mir den Vergleich erlauben.«
»Wie viel Zeit, meinen Sie, hat er noch?«
»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Aber wenn sein Zustand sich nicht bessert, im schlimmsten Fall vielleicht nur noch eine Woche«, sagte der Arzt.
Tengo biss sich wieder auf die Lippe und wechselte den Hörer in die andere Hand.
»Ich komme morgen«, sagte Tengo. »Ich wollte ohnehin bald zu Ihnen hinausfahren. Vielen Dank, dass Sie mich benachrichtigt haben.«
Der Arzt schien erleichtert. »Tun Sie das. Ich würde es auch für das Beste halten, wenn Sie möglichst rasch nach ihm sehen würden. Wahrscheinlich können Sie nicht mit ihm sprechen, aber Ihr Herr Vater wird sich gewiss freuen.«
»Aber er ist doch gar nicht bei Bewusstsein?«
»Nein.«
»Meinen Sie, er hat Schmerzen?«
»Im Augenblick vermutlich nicht. Er hat Glück im Unglück, er schläft einfach tief und fest.«
»Haben Sie vielen Dank«, sagte Tengo.
»Herr Kawana«, sagte der Arzt. »Ihr Vater war – wie soll ich sagen – immer ein sehr pflegeleichter Patient. Ein Mensch, der niemandem zur Last fällt.«
»So war er schon immer«, sagte Tengo, bedankte sich noch einmal und legte auf.
Tengo machte sich einen Kaffee und setzte sich Fukaeri gegenüber an den Tisch, um ihn zu trinken.
»Sie fahren morgen weg«, fragte sie.
Tengo nickte. »Morgen früh muss ich noch mal in den Zug steigen und in die Stadt der Katzen fahren.«
»Die Stadt der Katzen«, sagte Fukaeri tonlos.
»Du wartest hier«, fragte Tengo. Seit Fukaeri bei ihm wohnte, hatte er es sich angewöhnt, hin und wieder wie sie ohne Fragezeichen zu sprechen.
»Ich warte hier.«
»Ich fahre allein in die Stadt der Katzen.« Tengo nahm einen Schluck Kaffee. Erst dann fiel ihm ein, dass er Fukaeri nichts angeboten hatte. »Möchtest du etwas trinken«, fragte er.
»Wenn Sie Weißwein haben.«
Tengo öffnete den Kühlschrank und entdeckte eine Flasche Chardonnay, die er vor einiger Zeit im Sonderangebot gekauft hatte. Auf dem Etikett war ein Wildschwein abgebildet. Er entkorkte die Flasche, schenkte ein und stellte Fukaeri das Glas hin. Nach einigem Zögern goss er sich selbst ein Glas ein. Er hatte tatsächlich mehr Lust auf Wein als auf Kaffee. Der Wein war etwas zu kalt und zu süß, aber der Alkohol half ihm, sich zu entspannen.
»Sie fahren morgen in diese Stadt«, wiederholte Fukaeri.
»Mit einem frühen Zug«, sagte Tengo.
Während er seinen Wein trank, musste er daran denken, dass er im Körper dieses schönen jungen Mädchens ejakuliert hatte. Auf einmal erschien ihm die vergangene Nacht wie etwas, das sich in ferner Vergangenheit zugetragen hatte. Fast wie ein historisches Ereignis. Doch die sinnliche Empfindung war noch sehr lebendig in ihm.
»Es ist ein zweiter Mond hinzugekommen«, eröffnete Tengo ihr, während er sein Glas langsam in der Hand drehte. »Als ich eben zum Himmel sah, waren es auf einmal zwei Monde. Ein großer gelber und ein kleiner grüner. Vielleicht ist das schon länger so, und ich habe es bloß nicht gemerkt.«
Fukaeri äußerte sich nicht zu dieser Eröffnung. Sie schien nicht erstaunt zu sein. Sie verzog keine Miene, zuckte nicht
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