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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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die Lippen fest aufeinander und schaute ihm direkt in die Augen. Genauso wie ihm, als er zehn Jahre alt gewesen war, Aomame in dem Klassenzimmer in die Augen geschaut hatte. In ihrem Blick lag eine so tiefe und kraftvolle geistige Erkenntnis, dass Tengo das Gefühl bekam, zu Stein zu erstarren. Zu Fels zu werden und sich in einen neuen Mond zu verwandeln. In einen kleinen, unregelmäßig geformten Mond. Endlich wandte Fukaeri ihren Blick ab. Sie hob die rechte Hand und legte sie sich an die Schläfe. Als würde sie versuchen, ihre eigenen geheimen Gedanken zu lesen.
    »Sie haben sie gesucht«, fragte sie.
    »Ja.«
    »Aber nicht gefunden.«
    »Nein«, antwortete Tengo.
    Er hatte Aomame nicht gefunden, stattdessen aber entdeckt, dass es zwei Monde gab. Weil er auf Fukaeris Rat sein Gedächtnis durchforstet und deshalb Ausschau nach dem Mond gehalten hatte.
    Das Mädchen griff nach ihrem Weinglas. Sie behielt den Wein einen Moment im Mund und schluckte ihn dann vorsichtig hinunter, wie ein Insekt, das Tau trinkt.
    »Du hast gesagt, sie hält sich irgendwo versteckt. Wie soll ich sie denn dann finden?«
    »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte Fukaeri.
    »Keine Sorgen«, wiederholte er.
    Fukaeri nickte nachdrücklich.
    »Heißt das, dass ich sie finden werde?«
    »Sie wird Sie finden«, sagte Fukaeri ruhig. Ihre Stimme war wie eine Brise, die über weiche Wiesen streicht.
    »Hier in Koenji.«
    Fukaeri legte den Kopf schräg. Das hieß, sie wusste es nicht. »Irgendwo«, sagte sie.
    »Aus irgendeinem Grund glaube ich dir«, sagte Tengo ergeben, nachdem er eine Weile überlegt hatte.
    »Ich bin die, die wahrnimmt, und Sie sind der, der empfängt«, sagte Fukaeri weise.
    »Du bist die, die wahrnimmt, ich bin der, der empfängt«, sagte Tengo, indem er die Personalpronomen wechselte.
    Fukaeri nickte.
    Deshalb haben wir uns auch vereinigt . Gestern Nacht bei dem Unwetter. Tengo hätte sie gern gefragt, was das alles zu bedeuten hatte. Aber er tat es nicht. Es wäre vielleicht unpassend gewesen. Außerdem hätte sie sowieso nicht geantwortet. Das wusste er.
    Was einer ohne Erklärung nicht versteht, versteht er auch nicht, wenn man es ihm erklärt, hatte sein Vater gesagt.
    »Du bist die, die wahrnimmt, ich bin der, der empfängt«, sagte Tengo noch einmal. »Die gleiche Situation wie in Die Puppe aus Luft .«
    Fukaeri schüttelte den Kopf, strich sich das Haar zurück und legte eines ihrer hübschen kleinen Ohren frei. Als würde sie die Antenne eines Funkgeräts ausfahren.
    »Nein, nicht die gleiche«, sagte Fukaeri. »Sie haben etwas verändert.«
    »Ich habe etwas verändert«, wiederholte er.
    Fukaeri nickte.
    »Inwiefern?«
    Fukaeri schaute lange in das Weinglas in ihrer Hand. Als sei etwas Bedeutsames darin zu sehen.
    »Sie werden es erfahren, wenn Sie in die Stadt der Katzen kommen«, sagte das schöne Mädchen mit dem entblößten Ohr und nahm einen Schluck Wein.

KAPITEL 23
    Aomame
    Der Ritt auf dem Tiger
    Aomame wachte kurz nach sechs Uhr auf. Es war ein schöner, klarer Morgen. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und machte sich Toast und ein gekochtes Ei. Die Nachrichten im Fernsehen erwähnten den Tod des Leaders noch immer nicht. Offenbar hatten die Vorreiter die Leiche wirklich heimlich beiseite geschafft, ohne die Polizei oder die Öffentlichkeit zu informieren. Es machte nicht viel aus. Er war tot, und wie man mit einem Toten umging, war keine bedeutsame Frage. Es änderte nichts daran, dass er tot war.
    Um acht nahm sie eine Dusche, kämmte sich vor dem Spiegel im Bad gründlich die Haare und trug etwas Lippenstift auf. Er war kaum sichtbar. Sie streifte die Nylonstrumpfhosen über und zog dann ihre weiße Baumwollbluse und ihr schickes Kostüm von Junko Shimada an, die beide im Schrank gehangen hatten. Sie drehte und wendete sich, während sie ihren gepolsterten Drahtbügel-BH zurechtrückte, und dachte zum zweiundsiebzigtausendsten Mal, wie gut es wäre, wenn sie einen etwas größeren Busen hätte. Na und, dann war es eben das zweiundsiebzigtausendste Mal. Zumindest solange ich noch am Leben bin, dachte Aomame, denke ich, was mir gefällt, und zwar, so oft ich es will. Ich lasse mir von keinem etwas sagen. Schließlich schlüpfte sie in ihre Charles-Jourdan-Stöckelschuhe.
    Aomame stellte sich vor den lebensgroßen Spiegel, der im Flur hing, und vergewisserte sich, dass es an ihrer Garderobe nichts auszusetzen gab. Sie zog eine Schulter leicht in die Höhe und fand, dass sie eine gewisse

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