1Q84: Buch 1&2
Mandschukuo ein. Große Teile der von der europäischen Front abgezogenen Sowjetarmee wurden mit der Sibirischen Eisenbahn in den Fernen Osten verlegt und überschritten die chinesische Grenze. Ein Beamter, mit dem Tengos Vater sich angefreundet hatte, erzählte ihm unter der Hand von der bedrohlichen Lage und dem bevorstehenden Einmarsch der Sowjets. Die geschwächte japanische Kwantung-Armee habe dieser kaum etwas entgegenzusetzen, teilte ihm der Beamte heimlich mit, und er solle sich darauf einstellen, Hals über Kopf zu flüchten. Je schneller, desto besser. Sobald Tengos Vater die Nachricht vom Grenzübertritt der Sowjetarmee erhielt, ritt er auf einem Pferd, das er zu diesem Zweck bereitgehalten hatte, zum Bahnhof und erreichte gerade noch den vorletzten Zug in Richtung Russland. In seinem Freundeskreis war er der Einzige, der in jenem Jahr unbeschadet nach Japan zurückkehrte.
Nach dem Krieg ging der Vater nach Tokio und versuchte sich im Schwarzhandel und als Zimmermannsgehilfe, hatte aber mit keinem von beidem Erfolg und konnte sich kaum über Wasser halten. Als er im Herbst 1947 eine Kneipe in Asakusa belieferte, traf er zufällig einen alten Bekannten aus der Mandschurei. Es war jener Beamte, der ihn vor dem bevorstehenden Kriegsausbruch zwischen Japan und der Sowjetunion gewarnt hatte. Der Mann war für das mandschurische Postsystem zuständig gewesen und hatte nach seiner Rückkehr nach Japan wieder in seinem alten Ressort im Ministerium für Kommunikation und Transport Fuß gefasst. Er schien sich seine Sympathie für Tengos Vater bewahrt zu haben und lud ihn zum Essen ein: Sie seien doch alte Kameraden, und außerdem kenne er ihn als überaus fleißigen Arbeiter.
Er wisse, wie schwer es dieser Tage für Tengos Vater sei, eine richtige Arbeit zu finden. Ob er Interesse habe, es als Gebühreneinsammler für NHK zu versuchen. Er könne bei einem guten Freund in der entsprechenden Abteilung ein gutes Wort für ihn einlegen. Dafür wäre er sehr dankbar, sagte Tengos Vater. Er wusste nicht genau, was dieses NHK war, aber solange er dort Arbeit und ein festes Einkommen bekam, sollte es ihm recht sein. Der Beamte verfasste ein Empfehlungsschreiben und verbürgte sich für ihn, und Tengos Vater bekam ohne Schwierigkeiten eine Stelle als Gebührenkassierer bei NHK . Nach einem kurzen Lehrgang erhielt er eine Uniform und einen Zuständigkeitsbereich.
Die Menschen erholten sich allmählich vom Schock der Kapitulation und suchten Vergessen und Ablenkung von ihrem ärmlichen Dasein. Damals gehörten Musik-, Unterhaltungs- und Sportsendungen aus dem Radio zu den einfachsten und erschwinglichsten Vergnügungen. Im Vergleich zur Vorkriegszeit waren Radiogeräte nun sehr viel weiter verbreitet, und NHK bedurfte einer großen Anzahl von Mitarbeitern, die die Rundfunkgebühren vor Ort einsammelten.
Tengos Vater erfüllte seine Aufgabe mit bemerkenswertem Eifer. Er war körperlich robust und verfügte über große Ausdauer. Vor allem hatte er sich nie zuvor in seinem Leben richtig sattessen können. Jemand wie er empfand das Einsammeln von Gebühren nicht als schwere Arbeit. Auch die gelegentlich damit verbundenen Demütigungen waren ihm nicht unbekannt. Außerdem erfüllte es ihn mit großer Befriedigung, einer so riesigen Organisation anzugehören, und sei es nur als winziges Rädchen. Nachdem er ein Jahr lang auf Honorarbasis gearbeitet hatte, wurde er aufgrund seiner hervorragenden Erfolgsrate und Arbeitsmoral fest angestellt. Dies entsprach nicht den Gepflogenheiten bei NHK und war eine ungewöhnliche Auszeichnung, die sich vor allem dem Umstand verdankte, dass Tengos Vater selbst in Gegenden, die als hochgradig problematisch galten, überdurchschnittliche Ergebnisse erzielte. Darüber hinaus hatte auch sein Bürge, der Beamte im Kommunikationsministerium, seinen Einfluss spielen lassen. Ein Grundgehalt wurde festgesetzt, und Tengos Vater erhielt alle dazugehörigen Vergünstigungen, zum Beispiel eine Dienstwohnung und eine Krankenversicherung. Hierin bestand ein himmelweiter Unterschied zur Behandlung gewöhnlicher Hilfskräfte, die im Grunde nach Bedarf angestellt und wieder entlassen wurden. Dies war das größte Glück, das Tengos Vater je in seinem Leben widerfahren war. Seine Position war eine am untersten Ende der Leiter, doch damit konnte er sie immerhin zementieren.
Diese Geschichte hatte Tengo bis fast zum Erbrechen gehört. Statt ihm abends vor dem Schlafengehen etwas vorzusingen oder vorzulesen,
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