1Q84: Buch 3
dann wusste er plötzlich, dass dieses Mädchen Eriko Fukada war. Er hatte sie noch nie leibhaftig gesehen, nur auf einem Foto im Feuilleton einer Zeitung. Dennoch stimmte die erhabene Klarheit, die diesem Mädchen zu eigen war, ganz genau mit dem Eindruck überein, den das kleine schwarzweiße Foto ihm vermittelt hatte. Eriko Fukada und Tengo hatten sich natürlich bei der Überarbeitung von Die Puppe aus Luft kennengelernt. Es war durchaus möglich, dass sie sich mit ihm angefreundet hatte und sich in seiner Wohnung versteckt hielt.
Bei diesem Gedanken stülpte sich Ushikawa fast automatisch seine Wollmütze über, zog seinen dunkelblauen Stutzer an und wickelte sich den Schal um den Hals. Er verließ das Haus und ging in die Richtung, in die das Mädchen gelaufen war.
Ihre Schritte waren so schnell gewesen, dass es vermutlich keinen Sinn hatte, ihr jetzt noch zu folgen. Aber sie hatte nichts bei sich gehabt. Ein Hinweis, dass sie nicht beabsichtigte, sich sehr weit zu entfernen. Sicher wäre es profitabler, in Ruhe auf ihre Rückkehr zu warten, statt zu versuchen, sie zu beschatten, und das Risiko einzugehen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Aber Ushikawa konnte nicht anders, als ihr zu folgen. Dieses junge Mädchen hatte etwas an sich, das ihn entgegen alle Vernunft erschütterte. So wie die geheimnisvolle Färbung des Lichts im Moment des Sonnenuntergangs besondere Erinnerungen wachrufen kann.
Nach einer Weile sah er sie. Sie stand am Straßenrand und spähte eifrig ins Schaufenster eines kleinen Papiergeschäfts. Offenbar erregte etwas darin ihr Interesse. Ushikawa blieb, den Rücken zu ihr gekehrt, unauffällig vor einem Getränkeautomaten stehen. Er nahm Kleingeld aus der Hosentasche und zog sich einen Becher heißen Kaffee.
Kurz darauf setzte sie sich wieder in Bewegung. Ushikawa stellte den halb ausgetrunkenen Becher zu seinen Füßen ab und folgte ihr in angemessener Distanz. Sie konzentrierte sich ganz und gar auf die Tätigkeit des Gehens. Es wirkte, als würde sie zu Fuß einen großen See überqueren, ohne die kleinste Welle zu verursachen. Mit ihrem besonderen Gang konnte sie übers Wasser schreiten, ohne zu versinken oder sich auch nur die Schuhe nasszumachen. Sie schien genau zu wissen, wie sie ihre Füße setzen musste.
Diese junge Frau hatte etwas Besonderes, etwas, das gewöhnliche Menschen nicht besaßen. Das spürte Ushikawa. Er wusste nicht viel über Eriko Fukada. Was er bisher erfahren hatte, war, dass sie, die einzige Tochter des Leaders, mit zehn Jahren aus der Sekte der Vorreiter geflohen und bei dem bekannten Wissenschaftler Ebisuno aufgewachsen war, um schließlich den Roman Die Puppe aus Luft zu schreiben, der es mit Tengo Kawanas Hilfe zum Bestseller gebracht hatte. Jetzt war sie verschwunden, und die Polizei fahndete nach ihr, weshalb sie auch kürzlich das Hauptquartier der Vorreiter durchsucht hatte.
Offenbar war der Inhalt von Die Puppe aus Luft problematisch für die Vorreiter. Ushikawa hatte sich das Buch gekauft und es aufmerksam gelesen, aber welche Teile darin die problematischen waren, hatte sich ihm nicht erschlossen. Die Geschichte an sich war spannend und sehr gut geschrieben; leicht zu lesen und feinsinnig, teilweise war sie ihm richtig zu Herzen gegangen. Aber letzten Endes handelte es sich doch nur um eine harmlose phantastische Geschichte. Gewiss war das auch die in der Öffentlichkeit vorherrschende Meinung. Aus dem Maul einer toten Ziege kamen Little People und sponnen eine Puppe aus Luft. Die Heldin war in Mother und Daughter gespalten, und am Himmel erschienen zwei Monde. Wo sollten sich da Informationen verbergen, die den Vorreitern schaden konnten, wenn sie an die Öffentlichkeit gelangten? Aber die Vorreiter schienen überzeugt, gegen das Buch vorgehen zu müssen. Zumindest war es eine Zeitlang so gewesen.
Aber im Hinblick auf die öffentliche Aufmerksamkeit, die Eriko Fukada erregt hatte, war es wohl ziemlich gefährlich, sich, ganz gleich in welcher Form, an ihr zu vergreifen. Deshalb (so vermutete Ushikawa) sollte er als Außenagent der Sekte sich an Tengo heranmachen. Man hatte ihn damit beauftragt, irgendeine Beziehung zu diesem Mathematiklehrer herzustellen.
Aus Ushikawas Sicht spielte Tengo bei der ganzen Angelegenheit nur eine untergeordnete Rolle. Er hatte auf Bitte eines Redakteurs das Manuskript von Die Puppe aus Luft in eine leicht lesbare und stimmige Geschichte umgeschrieben. Er hatte sehr gute Arbeit geleistet, aber letztlich hatte er nur
Weitere Kostenlose Bücher