1Q84: Buch 3
wissen.
Vor zwölf Uhr, wenn die wenigsten Leute ein und aus gingen, verließ Ushikawa die Wohnung. Er trug eine Wollmütze und wickelte sich bis unter die Nase in einen Schal, um zumindest sein Gesicht zu verbergen. Leider zog er trotz – oder eher wegen – dieser Aufmachung die Blicke auf sich. Die beigefarbene Mütze nahm sich auf seinem großen Kopf aus wie der Schirm von einem Pilz. Der grüne Schal erweckte die Assoziation einer Schlange, die sich um seinen Hals ringelte. Besonders erfolgreich war seine Verkleidung nicht. Überdies passten Mütze und Schal wirklich kein bisschen zusammen.
Ushikawa gab zwei Filme in dem Fotolabor am Bahnhof ab. Dann ging er in ein Nudelrestaurant und bestellte Tempura-Soba – eine Buchweizennudelsuppe mit ausgebackenem Gemüse. Es war schon eine Weile her, seit er etwas Warmes gegessen hatte. Ushikawa verzehrte seine Suppe mit großem Genuss und trank die Brühe bis zum letzten Tropfen aus. Danach war ihm so warm, dass er zu schwitzen begann. Dennoch setzte er die Wollmütze auf und wickelte sich den Schal um, als er zurück zur Wohnung ging. Dort angekommen legte er die entwickelten Fotos in einer Reihe auf dem Boden aus und rauchte dabei eine Zigarette. Er verglich die abendlichen Heimkehrer mit den Leuten, die morgens gegangen waren, und konnte alle Gesichter zuordnen. Um sich leichter merken zu können, wer wer war, gab er jedem einen passenden Namen, den er mit Filzstift auf die Rückseiten der Fotos schrieb.
Sobald die morgendliche Aufbruchszeit beendet war, wurde es still im Treppenhaus. Gegen zehn Uhr vormittags eilte ein junger Mann mit Umhängetasche, der wie ein Student aussah, aus dem Haus. Eine etwa siebzigjährige Frau und eine Mittdreißigerin verließen ebenfalls das Haus, kehrten jedoch bald darauf mit Einkaufstüten vom Supermarkt zurück. Ushikawa machte Aufnahmen von allen dreien. Kurz vor Mittag warf der Briefträger die Post ein. Ein Eilzusteller brachte ein Paket und kam etwa fünf Minuten später wieder mit leeren Händen aus dem Haus.
Nach jeweils einer Stunde stand Ushikawa auf, um etwa fünf Minuten Gymnastik zu machen. Dazu musste er seine Beobachtung unterbrechen, aber für eine Person allein war es ohnehin unmöglich, alles Kommen und Gehen im Auge zu behalten. Und es war schließlich unerlässlich, dafür zu sorgen, dass seine Gliedmaßen nicht einschliefen. Verharrte er über zu lange Zeit in der gleichen Haltung, versteifte sich die Muskulatur, und dann hätte er, wenn es darauf ankam, nicht mehr schnell genug reagieren können. Wie Gregor Samsa nach seiner Verwandlung wand Ushikawa seine rundliche und unproportionierte Gestalt auf dem Boden, schaukelte und zappelte, um seine Muskeln zu lockern.
Zum Zeitvertreib setzte er sich Kopfhörer auf und lauschte einem Mittelwellensender. Das Mittagsprogramm richtete sich hauptsächlich an Hausfrauen und ältere Zuhörer. Sprecher und Studiogäste alberten herum, lachten hysterisch und äußerten ihre banalen, dümmlichen Ansichten. Die Musik, die gespielt wurde, war so grässlich, dass er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Dazwischen wurde aufdringlich und schrill für Waren geworben, die niemand brauchte. So zumindest empfand es Ushikawa. Aber das war egal, ihm kam es darauf an, menschliche Stimmen zu vernehmen. Deshalb ertrug er solche Sendungen, auch wenn er sich fragte, warum um alles in der Welt man solchen albernen Kram produzieren und ihn dann noch eigens mittels elektromagnetischer Wellen bis in die entlegensten Gegenden verbreiten musste.
Andererseits übte Ushikawa ja selbst keine sehr vornehme Tätigkeit aus, sondern bespitzelte in einem billigen Mietshaus hinter einer Gardine versteckt irgendwelche Leute. Er war eigentlich nicht in der Position, auf andere herabzuschauen.
Und so verhielt es sich nicht erst seit heute. In seiner Zeit als Anwalt war es ähnlich gewesen. Er konnte sich nicht erinnern, der Gesellschaft jemals einen nützlichen Dienst erwiesen zu haben. Sein erster Klient war ein mittlerer Geldverleiher gewesen, der mit einem Verbrecher-Syndikat zusammenarbeitete. Ushikawa hatte dabei geholfen, die Gewinne möglichst geschickt zu verteilen. Im Grunde nichts als Geldwäsche. Auch an Bodenspekulationen war er beteiligt gewesen. Wenn seine Auftraggeber sich ein Wohnviertel unter den Nagel reißen wollten, half er ihnen dabei, die alteingesessenen Anwohner zu vertreiben, damit ihre Häuser abgerissen und die Grundstücke an Bauherren von Luxuswohnungen
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