1Q84: Buch 3
wirklich entführt?«, fragte Tengo.
Nachdem Komatsu die Form des Aschenbechers hinreichend erkundet hatte, stellte er ihn wieder auf den Tisch und sah Tengo an. »Ja, so nennt man das wohl. Es war genau wie in diesem alten Film Der Fänger . Den meisten Menschen kommt wahrscheinlich nie der Gedanke, dass sie irgendwann einmal entführt werden könnten. Nicht eine Sekunde denkt man daran. Stimmt’s? Aber wenn man entführt wird, dann wird man auch richtig entführt. Das bringt, wie soll ich sagen, ein surreales Gefühl mit sich. Ich wurde wirklich entführt . Das ist doch kaum zu glauben, oder?«
Komatsu sah Tengo an, als erwarte er eine Antwort. Aber letztlich war es eine rein rhetorische Frage. Tengo wartete schweigend darauf, dass er fortfuhr. Sein noch unberührtes Glas war beschlagen. Tropfen sammelten sich und rannen auf den Untersetzer.
Kapitel 16
Ushikawa
Eine leistungsstarke, ausdauernde, gefühllose Maschine
Am nächsten Morgen setzte sich Ushikawa wieder vor dem Fenster auf den Fußboden und fuhr fort, durch den Spalt im Vorhang den Eingang zu beobachten. Die Leute, die am Abend zuvor nach Hause gekommen waren, verließen jetzt das Gebäude. Ihre Mienen waren düster, und sie gingen gebeugt. Obwohl der neue Tag kaum begonnen hatte, wirkten sie schlecht gelaunt und erschöpft. Ushikawa fotografierte sie alle. Er hatte genügend Filme, und er brauchte etwas praktische Übung. Tengo war nicht dabei.
Als die Zeit des morgendlichen Aufbruchs vorüber war und Ushikawa sicher sein konnte, dass alle gegangen waren, verließ er die Wohnung und suchte ein öffentliches Telefon auf, um bei der Schule in Yoyogi anzurufen und sich nach Tengo zu erkundigen. »Herr Kawana hat sich vor etwa zehn Tagen beurlauben lassen«, sagte die Dame am Telefon.
»Er ist doch nicht krank?«
»Nein, aber er musste wegen eines Krankheitsfalls in der Familie nach Chiba.«
»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«
»Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben«, sagte die Frau.
Ushikawa bedankte sich und legte auf.
Der Jemand aus Tengos Familie konnte nur sein Vater sein. Der Vater, der früher Gebührenkassierer bei NHK gewesen war. Von seiner Mutter wusste Tengo ja noch nichts. Soweit Ushikawa bekannt war, hatte Tengo sich nie gut mit seinem Vater verstanden. Dennoch hatte er schon zehn Tage Urlaub genommen, um bei dem Kranken sein zu können. Das ergab eigentlich keinen Sinn. Wieso hatte sich Tengos Abneigung gegen seinen Vater so schnell gelegt? Welche Krankheit hatte der Vater wohl? Und in welchem Krankenhaus lag er? Um das herauszufinden, hätte er einen halben Tag opfern müssen. Und seine Überwachung abbrechen.
Ushikawa zögerte. Da Tengo Tokio verlassen hatte, war es eigentlich unsinnig, den Eingang seines Hauses zu beobachten. Vielleicht war es tatsächlich klüger, die Überwachung abzubrechen und sich in eine andere Richtung vorzutasten. Er konnte recherchieren, in welches Krankenhaus Tengos Vater eingewiesen worden war. Oder seine Nachforschungen über Aomame noch etwas vorantreiben, indem er ein paar ehemalige Kommilitonen und Kollegen aus der Firma, in der sie gearbeitet hatte, nach persönlichen Dingen ausfragte. Vielleicht würde er eine neue Spur entdecken.
Doch nach reiflicher Überlegung beschloss Ushikawa, die Beobachtung des Hauses fortzusetzen. Wenn er sie jetzt abbrach, würde er erstens den Lebensrhythmus durchbrechen, den er gerade erst mühsam begonnen hatte, und mit allem noch einmal von vorne anfangen müssen. Und zweitens war es fraglich, ob es sich lohnen würde zu recherchieren, wo Tengos Vater sich aufhielt und mit wem Aomame befreundet war. Bis zu einem gewissen Punkt konnte es sehr produktiv sein, sich bei Nachforschungen die Hacken abzulaufen, aber wenn man diesen Punkt überschritt, landete man häufig in einer Sackgasse. Das wusste Ushikawa aus Erfahrung. Und drittens riet ihm sein guter alter Instinkt, sich nicht von der Stelle zu rühren . Sondern auf der Lauer zu liegen und aufmerksam zu beobachten, was an ihm vorüberzog, ohne das Mindeste zu verpassen.
Er beschloss, die Observierung des Hauses mit oder ohne Tengo fortzuführen. Bis Tengo zurückkehrte, konnte er sich die Gesichter ausnahmslos aller Bewohner einprägen. Sobald er wusste, wer hier wohnte, würde er auf einen Blick erkennen, wer nicht ins Haus gehörte. Ich bin ein Raubtier, dachte Ushikawa. Und Raubtiere brauchen unendlich viel Geduld. Sie müssen eins sein mit ihrem Revier und alles über ihre Beute
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