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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erlebt.
    Ushikawa beschloss, das junge Mädchen für den Moment in Ruhe zu lassen und sich, wie es ursprünglich sein Plan gewesen war, auf Aomame zu konzentrieren. Sie war eine Mörderin. Ganz gleich, aus welchem Grund sie ihre Tat begangen hatte, sie sollte bestraft werden. Sie den Vorreitern auszuliefern würde Ushikawa nicht den Schlaf rauben. Aber dieses junge Mädchen war ein weiches, stilles Geschöpf, das im Wald lebte. Mit blassen Schwingen wie der Schatten einer Elfe. Man sollte es nur aus der Ferne betrachten.
    Als Fukaeri mit ihren Papiertüten im Haus verschwunden war, wartete Ushikawa noch einen Moment und ging dann hinein. In der Wohnung nahm er Mütze und Schal ab und nahm wieder hinter der Kamera Platz. Sein Gesicht war kalt vom Wind. Er rauchte eine Zigarette und trank Mineralwasser. Er verspürte großen Durst, als habe er etwas sehr Salziges gegessen.
    Die Dämmerung setzte ein. Die Straßenbeleuchtung flammte auf, und es kamen allmählich die Leute nach Hause. Noch im Mantel, griff Ushikawa nach der Fernbedienung seiner Kamera und beobachtete aufmerksam den Hauseingang. Mit der Nachmittagssonne schwand auch die Wärme aus der leeren Wohnung. Vermutlich würde die kommende Nacht noch kälter als die vorherige. Ushikawa bereute, dass er sich nicht in einem der Elektroläden am Bahnhof einen Heizstrahler und eine Heizdecke gekauft hatte.
    Als Eriko Fukada das Haus wieder verließ, war es laut seiner Armbanduhr vier Uhr fünfundvierzig. Wieder trug sie den schwarzen Rollkragenpullover und die Jeans. Aber nicht die Lederjacke. Der enge Pullover betonte die Form ihres Busens. Sie hatte volle Brüste für ein so schlankes Mädchen. Während er die hübsche Wölbung durch den Sucher betrachtete, verspürte Ushikawa erneut diese Enge in seiner Brust, und das Atmen fiel ihm schwer.
    Sie trug keine Jacke, also hatte sie wahrscheinlich nicht die Absicht, sehr weit zu gehen. Wie beim letzten Mal blieb sie vor dem Eingang stehen und sah mit zusammengekniffenen Augen zu dem Strommast hinauf. Es wurde schon dunkel, aber wenn man die Augen anstrengte, konnte man noch die Schemen der Dinge unterscheiden. Eine Weile schien sie nach etwas dort oben Ausschau zu halten. Aber offenbar konnte sie das Gesuchte nicht entdecken. Schließlich wandte sie den Blick von dem Strommast ab und sah sich um, indem sie den Kopf bewegte wie ein Vogel. Ushikawa drückte die Fernbedienung und machte drei Aufnahmen von ihr.
    Plötzlich, als habe sie das Klicken gehört, blickte Fukaeri in Richtung der Kamera. Sie und Ushikawa standen einander sozusagen durch den Sucher gegenüber. Natürlich konnte Ushikawa ihr Gesicht durch sein Teleobjektiv deutlich sehen. Doch gleichzeitig starrte Fukaeri ihm durch die Linse frontal ins Gesicht. Ihre Augen bannten ihn, sein Gesicht spiegelte sich in ihrer blanken Schwärze. Es kam zu einem seltsam unmittelbaren Blickkontakt. Ushikawa musste schlucken. Das konnte doch nicht sein. Von dort, wo sie stand, konnte sie ihn unmöglich sehen. Das Objektiv hatte er getarnt, und das durch das Handtuch gedämpfte Klicken des Auslösers hatte sie unmöglich hören können. Dennoch stand sie dort vor der Haustür und starrte in seine Richtung, hielt ihren ausdruckslosen Blick fest auf ihn gerichtet. Wie das Licht der Sterne einen namenlosen Felsbrocken beleuchtet.
    Lange – wie lange, wusste Ushikawa nicht – sahen die beiden sich an. Dann wandte Fukaeri sich plötzlich mit einer Art Drehbewegung ab und ging eilig ins Haus. Als habe sie gesehen, was sie sehen wollte. Als sie fort war, blieben Ushikawas Lungen einen Moment lang leer, und es dauerte ein wenig, bis sie sich mit neuer Luft füllten. Die kalte Luft schnitt ihm von innen in die Brust wie unzählige Splitter.
    Die Nachbarn kehrten heim und gingen, wie auch am Abend zuvor, einer nach dem anderen unter der Türlampe hindurch ins Haus, aber Ushikawa blickte nicht mehr durch den Sucher. Er hielt auch die Fernbedienung nicht mehr in der Hand. Es war, als habe der offene, unverstellte Blick des jungen Mädchens seinem Körper sämtliche Kraft entzogen. Was für ein Blick. Er hatte sein Herz durchbohrt wie ein langer scharfer Nagel aus Stahl. So tief, dass er am Rücken wieder ausgetreten war.
    Sie wusste es. Das junge Mädchen wusste, dass es heimlich von Ushikawa beobachtet und fotografiert wurde. Wie sie es wissen konnte, war ihm ein Rätsel, aber es war so. Vielleicht verfügte sie über eine besondere Wahrnehmung, die sie in die Lage versetzte, seine

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