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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Präsenz zu spüren.
    Ushikawa hätte jetzt einen kräftigen Schluck brauchen können. Am liebsten hätte er sich einen Whiskey eingeschenkt und ihn in einem Zug hinuntergekippt. Er überlegte sogar, sich welchen zu kaufen. Um die Ecke war ein Spirituosengeschäft. Doch am Ende gab er den Gedanken auf. Alkohol würde jetzt auch nicht helfen. Das schöne Mädchen, dachte er, hat mich durch den Sucher gesehen. Sie hat gesehen, wie ich mit meinem schiefen Schädel und meiner schwarzen Seele im Hinterhalt lauere und andere Menschen ausspioniere. An dieser Tatsache kann nichts und niemand jemals etwas ändern.
    Ushikawa verließ seinen Posten hinter der Kamera und blickte, den Rücken an die Wand gelehnt, zur dunklen, fleckigen Decke hinauf. Währenddessen kamen ihm allerlei vergebliche Gedanken. Noch nie hatte er sich so völlig allein auf der Welt gefühlt. Noch nie war ihm die Dunkelheit so dunkel erschienen. Er dachte an sein Haus in Chuorinkan, an den Rasen des Gartens, an den Hund, an seine Frau und an seine beiden Töchter. Er dachte an die Sonne, die dort geschienen hatte. Und an seine Gene, die er an die beiden Mädchen weitergegeben hatte. Die Gene, die seinen hässlichen, schiefen Kopf und seine verschrobene Seele transportierten.
    Es kam ihm vor, als sei alles, was er getan hatte, sinnlos gewesen. Als habe er alle seine Trümpfe ausgespielt und nichts mehr auf der Hand gehabt. Er war bemüht gewesen, sein schlechtes Blatt bis zum Äußersten auszureizen, hatte klug und geschickt seinen Einsatz gemacht. Eine Zeitlang hatte es ja auch ganz gut ausgesehen, aber nun waren seine Hände leer. Die Lampe am Spieltisch war ausgeschaltet, alle Spieler waren gegangen.
    An diesem Abend machte Ushikawa kein Bild mehr. Er saß mit geschlossenen Augen an der Wand, rauchte mehrere Seven Stars und verspeiste noch eine Dose Pfirsiche. Gegen neun Uhr ging er ins Bad, putzte sich die Zähne, zog sich aus, kroch in den Schlafsack und versuchte, vor Kälte zitternd, einzuschlafen. Die Nacht war bitterkalt, aber sein Zittern rührte nicht allein daher. Ihm war, als komme die eisige Kälte aus dem Inneren seines Körpers. Wohin gehe ich nur?, fragte er sich in der Dunkelheit. Im Grunde wohl dorthin, woher ich gekommen bin.
    Er spürte noch immer den Schmerz in seiner Brust, den der bohrende Blick des Mädchens hervorgerufen hatte. Vielleicht würde er nie verschwinden. Oder war er vielleicht schon immer dort gewesen, und er hatte bisher nur noch nichts davon bemerkt?
     
    Am nächsten Tag, als Ushikawa sein aus Käse, Crackern und Instantkaffee bestehendes Frühstück beendet hatte, raffte er sich auf und bezog erneut seinen Posten. Wie am Tag zuvor machte er mehrere Aufnahmen von den schon bekannten gebeugten Gestalten, die in den neuen Tag hinaustrotteten. Doch weder Tengo noch Eriko Fukada ließen sich blicken. Es war ein schöner, windiger Morgen. Der Atem der Passanten gefror zu weißem Hauch und wurde davongeweht.
    Ushikawa nahm sich vor, überflüssige Grübeleien zu vermeiden. Er würde sich wappnen, sich ein dickes Fell anschaffen und so einen Tag auf den anderen folgen lassen. Ich bin nichts weiter als eine Maschine, dachte er. Eine leistungsstarke, ausdauernde, gefühllose Maschine. Durch die eine Öffnung sauge ich neue Zeit ein, und aus der anderen Öffnung stoße ich die alte, verbrauchte Zeit wieder aus. Der Daseinszweck dieser Maschine war ihre Existenz an sich. Er musste wieder zu seinem reinen, unverfälschten Rhythmus zurückfinden – der ewigen Bewegung, die irgendwann ihr Ende finden würde. Er nahm seine ganze Willenskraft zusammen, um Fukaeris Bild aus seinem Kopf zu verbannen, und dichtete sein Herz ab. Der Schmerz, den ihr bohrender Blick in seiner Brust zurückgelassen hatte, wurde schwächer und verwandelte sich in ein gelegentliches scharfes Stechen. Das genügt, dachte Ushikawa. Besser braucht es nicht zu werden. Ich bin ein einfaches System aus komplizierten Einzelteilen.
    Am Vormittag erstand er in einem kleinen Kaufhaus am Bahnhof ein Heizgerät. Dann ging er zu dem gleichen Nudel-Imbiss wie am Tag zuvor und aß noch einmal eine Schale heiße Tempura-Soba. Bevor er wieder das Haus betrat, blieb er stehen und fasste den Strommast ins Auge, den Fukaeri so eingehend gemustert hatte. Aber er konnte nichts Auffälliges entdecken. Nichts als dicke Leitungen, die wie schwarze Schlangen über ihm hingen, und die dazugehörigen Transformatoren. Was hatte sie dort gesehen? Oder was hatte sie gesucht ?
    Er ging

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