1Q84: Buch 3
sich an das Skelett eines in der Eiszeit ausgestorbenen Sauriers erinnert. Die Hände hatte sie unter der Decke, damit sie in der Kälte nicht abstarben.
Vielleicht war es nicht gut für das Kind, an kalten Abenden allzu lange im Freien zu sitzen. Aber bei diesen Temperaturen bestand sicher noch keine Gefahr. Auch wenn ihr Körper äußerlich abkühlte, würde das Fruchtwasser ungefähr die gleiche Wärme bewahren wie ihr Blut. Es gab so viele Orte auf der Welt, an denen eine viel strengere Kälte herrschte. Und auch dort bekamen die Frauen Kinder. Außerdem würde keine Kälte der Welt sie davon abhalten, Tengo wiederzusehen.
Am winterlichen Himmel waren der große gelbe und der kleine grüne Mond aufgegangen. Der Wind blies Wolken in verschiedenen Formen und Größen vor sich her. Weiß und dicht, wirkten sie wie Eisschollen, die auf Schmelzwasser in Richtung Meer trieben. Der Anblick der ziehenden Wolken gab ihr das Gefühl, etwas habe sie selbst an den Rand der Welt getragen. Ich bin am Nordpol der Vernunft gelandet, dachte Aomame. Nördlich von hier existiert nichts mehr, nur leeres Chaos.
Da sie die Glastür zum Balkon geschlossen hatte, war das Telefon nur leise zu hören. Außerdem war sie tief in Gedanken versunken. Dennoch entging es ihr nicht. Nach dreimaligem Läuten verstummte das Telefon und läutete erst nach zwanzig Sekunden erneut. Tamaru. Aomame nahm die Decke von den Knien, öffnete die beschlagene Glastür und betrat die Wohnung. Sie war dunkel und mäßig geheizt. Mit noch kalter Hand hob sie den Hörer ab.
»Liest du noch Proust?«
»Ja, aber komme nicht richtig voran«, antwortete Aomame, als sei das ihre Parole.
»Nicht nach deinem Geschmack?«
»Daran liegt es nicht. Aber – wie soll ich sagen – die Welt, die dort beschrieben wird, ist eben eine ganz andere.«
Tamaru wartete schweigend, dass sie weitersprach. Er hatte es nicht eilig.
»Mir ist, als würde ich einen ausführlichen Bericht über einen Planeten lesen, der Lichtjahre von der Welt entfernt ist, in der ich lebe. Ich kann mir die Szenen vorstellen, die Schilderungen sind ja auch sehr lebhaft und anschaulich. Aber ich kann das, was im Buch geschieht, nicht zu meiner eigenen Lage in Beziehung setzen. Weil es mir physisch so fern ist, muss ich immer wieder zurückblättern und die gleichen Stellen noch einmal lesen.«
Aomame suchte nach Worten. Tamaru wartete.
»Nicht, dass es langweilig wäre. Alles ist so feinfühlig und detailliert geschildert, dass auch jemand wie ich die Vorgänge auf diesem einsamen Planeten gut verstehen kann. Nur komme ich einfach nicht voran. Es ist, als würde ich in einem Boot flussaufwärts rudern. Ich rudere ein Stück, aber sobald ich aufhöre, um über etwas nachzudenken, treibt das Boot unversehens wieder zurück«, sagte Aomame. »Aber diese Art zu lesen entspricht mir im Augenblick sehr. Sie gefällt mir besser, als einer fortlaufenden Handlung zu folgen, zu lesen, um zu erfahren, was als Nächstes passiert. Wie soll ich es beschreiben – die Zeit verhält sich unregelmäßig und sprunghaft. Als spiele es eigentlich keine Rolle, was vorher und was nachher geschieht oder umgekehrt. Die Reihenfolge ist irgendwie egal.«
Aomame rang um eine präzisere Ausdrucksweise.
»Fast kommt es mir vor, als würde ich die Träume eines anderen Menschen lesen. Simultan miterleben, was er fühlt. Ohne verstehen zu können, worum es eigentlich geht. Obwohl die Empfindungen mir sehr nah sind, ist die wirkliche Distanz riesig.«
»Ob Proust das beabsichtigt hat?«
Das wusste Aomame natürlich nicht.
»Jedenfalls«, sagte Tamaru, »schreitet die Zeit in der Realität unaufhaltsam voran. Sie steht weder still, noch läuft sie rückwärts.«
»Ja, natürlich.« Aomame warf einen Blick auf die Glastür. War es wirklich so? Konnte man sich auf das stetige Fortschreiten der Zeit verlassen?
»Die Jahreszeit hat sich geändert, und das Jahr 1984 geht allmählich dem Ende zu«, sagte Tamaru.
»Ja, dieses Jahr werde ich Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wohl nicht mehr auslesen können.«
»Macht nichts«, sagte Tamaru. »Du kannst dir so viel Zeit nehmen, wie du willst. Der Roman ist vor siebzig Jahren geschrieben worden. Er steckt nicht gerade voller brandheißer Neuigkeiten.«
Wahrscheinlich nicht, dachte Aomame. Oder vielleicht doch? Sie hatte kein großes Vertrauen mehr in den Fortgang der Zeit.
»Und wie geht es deinem Bauch?«, fragte Tamaru.
»Im Augenblick habe ich keine Probleme.«
»Das
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