1Q84: Buch 3
aufhielt? Seit Ushikawa vor ungefähr einer Stunde zurückgekommen war, hatte er die Wohnung nicht mehr verlassen. Er hatte so gut wie keine Geräusche gemacht, und die Vorhänge waren dicht zugezogen.
»Herr Kozu, ich weiß ganz genau, dass Sie da drin sind«, sagte der Mann, als habe er Ushikawas Gedanken gelesen. »Und Sie fragen sich gerade, woher ich das weiß. Nun, ich weiß es eben. Sie sind da drin und verhalten sich still, weil es Ihnen widerstrebt, Gebühren zu zahlen. Das liegt doch auf der Hand.«
Abermals monotones Klopfen. Hin und wieder trat eine kurze Pause ein, als ob jemand, der ein Blasinstrument spielt, Atem hole, dann wurde im gleichen Rhythmus weitergeklopft.
»Also schön, Herr Kozu. Anscheinend sind Sie entschlossen, sich totzustellen. Nun, für heute will ich es gut sein lassen. Schließlich habe ich noch andere Dinge zu erledigen. Aber ich komme wieder. Und das ist keine leere Drohung. Wenn ich sage, ich komme wieder, dann komme ich auch wieder. Ich bin nicht wie andere Gebührenkassierer. Ich gebe niemals auf, solange ich nicht bekomme, was mir zusteht. Das ist ebenso sicher, wie der Mond ab- und zunimmt und auf das Leben der Tod folgt. Sie werden mir nicht entrinnen.«
Langes Schweigen. Als Ushikawa schon annahm, der Kassierer sei gegangen, fuhr dieser fort. »Sie werden bereits in allernächster Zeit wieder von mir hören, Herr Kozu. Sie dürfen sich schon darauf freuen. Wenn Sie es am wenigsten erwarten, klopft es an Ihrer Tür. Klopf, klopf, klopf. Und das bin dann ich.«
Stille trat ein. Ushikawa lauschte und meinte, sich entfernende Schritte zu vernehmen. Rasch ging er zu seiner Kamera und nahm durch den Spalt zwischen den Vorhängen die Haustür ins Visier. Der Kassierer musste ja herauskommen, sobald er seine Tätigkeit im Haus beendet hatte. Ushikawa musste sich davon überzeugen, ob der Mann wirklich von NHK kam. In diesem Fall würde man das sofort an seiner Kleidung erkennen. Vielleicht war er gar kein echter Gebührenkassierer und gab sich nur als solcher aus, um Ushikawa dazu zu bringen, die Tür zu öffnen. Auf jeden Fall musste es jemand sein, den er bisher noch nicht gesehen hatte. Ushikawa hielt die Fernbedienung des Auslösers in der rechten Hand und wartete darauf, dass der Unbekannte in der Haustür erschien.
Dreißig Minuten verstrichen, in denen weder jemand kam noch ging. Dann erschien eine Frau in mittlerem Alter, die er schon mehrmals gesehen hatte, und fuhr mit ihrem Fahrrad davon. Wegen ihres Doppelkinns nannte Ushikawa sie »Frau Kinn«. Nach einer halben Stunde kehrte Frau Kinn mit ihren Einkäufen zurück. Sie stellte das Fahrrad ab und schleppte ihre Tüten ins Haus. Als Nächstes kam ein Junge von der Schule nach Hause. Wegen seiner schräg stehenden Augen hatte Ushikawa ihm den Namen »Fuchs« gegeben. Aber es tauchte niemand auf, der der Kassierer hätte sein können. Das ging über Ushikawas Verstand. Das Haus besaß nur diese eine Tür, und er hatte sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Das bedeutete, der Kassierer musste noch im Haus sein .
Ushikawa ließ die Haustür weiterhin nicht aus den Augen. Nicht einmal auf die Toilette ging er. Der Tag neigte sich, es wurde dunkel, im Flur schaltete sich das Licht ein. Aber der Kassierer kam nicht heraus. Gegen sechs Uhr gab Ushikawa auf. Er ging auf die Toilette und urinierte. Dieser Mann musste sich noch im Haus befinden, da gab es keinen Zweifel. Wo und warum, das war Ushikawa ein Rätsel. Er hatte auch keine Theorie. Offenbar hatte der sonderbare Kassierer beschlossen zu bleiben.
Ein schneidender Wind, der die Kälte noch verstärkte, pfiff zwischen den vereisten Stromleitungen hindurch. Ushikawa schaltete den Heizofen ein und rauchte eine Zigarette. Dabei stellte er Vermutungen über den rätselhaften Kassierer an. Warum hatte er auf diese provozierende Weise gesprochen? Warum war er so sicher gewesen, dass sich jemand in der Wohnung aufhielt? Und warum hatte er das Haus nicht verlassen? Und wenn er es nicht verlassen hatte, wo hielt er sich dann jetzt auf?
Ushikawa verließ seinen Posten an der Kamera, setzte sich an die Wand und starrte lange auf den orange leuchtenden Heizstrahler.
Kapitel 17
Aomame
Man hat nur ein Paar Augen
An einem stürmischen Donnerstag klingelte das Telefon. Es ging auf acht Uhr zu. Aomame saß in einer Daunenjacke und mit ihrer Decke über den Knien auf dem Balkon und behielt durch die Sichtblenden die von der Laterne beleuchtete Rutschbahn im Auge. Sie fühlte
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