1Q84: Buch 3
schließlich suche ich Tengo und darf nicht das kleinste Detail übersehen. Allerdings habe auch ich nur ein Paar Augen.
»Das war’s von meiner Seite.«
»Wie geht es Madame?«, fragte Aomame.
»Gut«, sagte Tamaru. »Aber in letzter Zeit ist sie ziemlich schweigsam geworden«, fügte er hinzu.
»Sie war doch nie ein Mensch, der sehr viel redet.«
Ein leiser Laut drang aus Tamarus Kehle. Als habe er ein besonderes Instrument darin, um bestimmte Gefühle auszudrücken. »Das hat sich noch verstärkt , wollte ich sagen.«
Aomame stellte sich vor, wie die alte Dame allein in ihrem Liegestuhl im Gewächshaus saß und unentwegt das lautlose Flattern der Schmetterlinge beobachtete. Zu ihren Füßen stand eine große Gießkanne. Aomame wusste, wie leise sie atmete.
»Ins nächste Paket lege ich dir eine Schachtel Madeleines«, sagte Tamaru zum Schluss. »Sie könnten sich positiv auf den Fluss der Zeit auswirken.«
»Danke«, sagte Aomame.
Aomame stand in der Küche und kochte sich einen Kakao. Bevor sie wieder ihren Beobachtungsposten auf dem Balkon bezog, musste sie sich aufwärmen. Sie erhitzte die Milch in einer Kasserolle und rührte Kakaopulver hinein. Den Kakao goss sie in einen großen Becher und gab die Sahne darauf, die sie vorher geschlagen hatte. Dann setzte sie sich an den Tisch und trank langsam. Dabei ließ sie sich durch den Kopf gehen, was Tamaru gesagt hatte. Sie wurde unter einem hellen, kalten Licht von diesem grotesken Wasserkopf unter die Lupe genommen. Er war ein echter Profi und gefährlich.
In ihrer Daunenjacke, einen Schal um den Hals gewickelt und den zur Hälfte geleerten Becher mit Kakao in der Hand, kehrte Aomame auf den Balkon zurück, setzte sich auf ihren Gartenstuhl und legte sich die Decke über die Knie. Die Rutschbahn war noch immer leer. Sie sah gerade noch, wie ein Kind den Park verließ. Wie seltsam. Was machte ein Kind um diese Zeit allein im Park? Es war ziemlich stämmig und trug eine gestrickte Mütze. Sie sah es nur ganz kurz durch die Lücke zwischen den Sichtblenden des Balkons, dann verschwand es sogleich hinter den Häusern. Für ein Kind hatte sein Kopf zu groß gewirkt, aber vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet.
Tengo war es auf alle Fälle nicht gewesen. Also dachte Aomame nicht weiter nach und richtete ihr Augenmerk wieder auf die Rutschbahn und die vorüberziehenden Wolkenfelder. Sie trank ihren Kakao und wärmte sich die Hände am Becher.
Natürlich hatte es sich bei der Person, die Aomame flüchtig gesehen hatte, nicht um ein Kind, sondern um Ushikawa gehandelt. Wäre es etwas heller gewesen oder hätte sie ihn etwas länger sehen können, wäre ihr gewiss aufgefallen, dass sein Kopf tatsächlich viel zu groß für einen kleinen Jungen war. Ihr wäre klar geworden, dass es der zwergenhafte Mann mit dem großen Kopf war, vor dem Tamaru sie gewarnt hatte. Doch Aomame hatte ihn nur wenige Sekunden und aus einem ungünstigen Blickwinkel gesehen. Glücklicherweise hatte Ushikawa aus den gleichen Gründen nicht beobachten können, wie Aomame auf den Balkon hinauskam.
An dieser Stelle tauchen einige »Wenns« auf. Wenn Tamaru sich etwas kürzer gefasst hätte oder wenn Aomame bei ihren anschließenden Überlegungen nicht Kakao gekocht hätte, dann hätte sie Tengo, der in diesem Moment von der Rutschbahn aus den Himmel betrachtete, noch entdeckt. Sie wäre sofort hinausgelaufen, und nach zwanzig Jahren hätte endlich das Wiedersehen der beiden stattgefunden.
Zugleich hätte Ushikawa, der Tengo beschattete, Aomame sofort erkannt, damit herausgefunden, wo sie lebte, und es im Nu den beiden Vorreitern berichtet.
So vermag niemand zu beurteilen, ob es eine glückliche oder eine unglückliche Fügung war, dass Aomame Tengo nicht gesehen hatte, der wie schon einmal zuvor auf die Rutschbahn gestiegen war und die beiden Monde durch die ziehenden Wolken hindurch betrachtet hatte. Ushikawa hatte sich in einiger Entfernung versteckt gehalten und ihn dabei beobachtet. Unterdessen hatte Aomame den Balkon verlassen, um mit Tamaru zu telefonieren, bevor sie sich Kakao kochte und ihn trank. Währenddessen waren etwa fünfundzwanzig Minuten vergangen. Entscheidende fünfundzwanzig Minuten. Als Aomame in ihrer Daunenjacke mit dem Kakao in der Hand auf den Balkon zurückkam, hatte Tengo den Park bereits verlassen. Ushikawa war ihm nicht direkt gefolgt. Er war allein im Park zurückgeblieben, um sich von etwas zu überzeugen. Erst dann war er davongeeilt.
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