1Q84: Buch 3
genügte es nicht, ab und zu einen Krankenbesuch zu machen und dann wieder nach Hause zu fahren. Jetzt war vermutlich ein stärkeres Engagement gefordert.
Mitte November beschloss Tengo, regulär Urlaub zu nehmen. Als Begründung gab er an, dass sein Vater schwer krank und pflegebedürftig sei, was ja nicht einmal gelogen war. Er bat einen ehemaligen Kommilitonen, ihn zu vertreten. Dieser Mann war so gut wie der einzige Studienkollege, zu dem Tengo noch losen Kontakt unterhielt. Er war ein Exzentriker, wie es bei Mathematikern häufiger vorkommt, aber ein exzellenter Kopf. Ungeachtet seines Universitätsabschlusses ging er weder in die Forschung, noch nahm er eine feste Stelle an und schlug sich stattdessen mit Nachhilfeunterricht durchs Leben. Seine übrige Zeit verbrachte er mit der Lektüre unzähliger Bücher und dem Angeln in Bergbächen. Außerdem war er von Haus aus nicht arm und nicht unbedingt auf eine Anstellung angewiesen. Zufällig wusste Tengo, dass er auch als Lehrer sehr begabt war. Er hatte Tengo schon einmal vertreten, und die Resonanz bei den Schülern war sehr positiv ausgefallen. Als Tengo ihn anrief und ihm die Sachlage erklärte, sagte er spontan zu.
Dann war da noch die Frage, was mit Fukaeri geschehen sollte, die ja bei ihm wohnte. Tengo konnte nicht einschätzen, ob es vernünftig wäre, das weltfremde, junge Mädchen länger in seiner Wohnung allein zu lassen. Zu allem Überfluss durfte ja niemand sie sehen. Also fragte er Fukaeri selbst, ob sie allein bleiben könne, solange er fort war, oder zeitweise woanders wohnen wolle.
»Wo fahren Sie hin«, fragte Fukaeri und sah ihn ernst an.
»In die Stadt der Katzen«, sagte Tengo. »Mein Vater ist schon seit einiger Zeit bewusstlos, und im Sanatorium sagen sie, es wird vielleicht nicht mehr lange dauern.«
Er verschwieg, dass eines Tages nach Sonnenuntergang eine Puppe aus Luft in dem Krankenzimmer erschienen war. Und Aomame als Mädchen darin schlief. Und diese Puppe aus Luft derjenigen aus Fukaeris Geschichte bis aufs Haar glich. Und er die Hoffnung hegte, dass sie wieder auftauchen würde.
Fukaeri kniff die Augen zusammen, presste die Lippen zu einem geraden Strich aufeinander und sah Tengo lange an. Als versuche sie, eine mit winzigen Zeichen geschriebene Botschaft zu entziffern. Beinahe unbewusst fasste er sich ins Gesicht, aber er hatte nicht den Eindruck, dass dort etwas geschrieben stand.
»Das ist gut«, sagte Fukaeri und nickte mehrmals. »Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich hüte das Haus.« Sie überlegte. »Im Moment besteht keine Gefahr«, fügte sie hinzu.
»Im Moment besteht keine Gefahr«, wiederholte Tengo.
»Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, sagte sie noch einmal.
»Ich rufe dich jeden Tag an.«
»Gehen Sie nicht in der Stadt der Katzen verloren.«
»Pass auf dich auf«, sagte Tengo.
Tengo ging in den Supermarkt und kaufte ein paar leicht zuzubereitende Lebensmittel ein, damit Fukaeri nicht aus dem Haus gehen musste. Er wusste, dass ihre Fähigkeiten und ihr Ehrgeiz, etwas zu kochen, nicht gerade ausgeprägt waren, und wollte es vermeiden, bei seiner Rückkehr in zwei Wochen einen Kühlschrank voll matschigem Gemüse vorzufinden.
Er packte Kleidung und Waschzeug in eine Kunststofftasche. Dann legte er noch ein paar Bücher, Schreibzeug und Manuskriptpapier dazu. Wie immer nahm er am Bahnhof Tokio den Schnellzug, stieg in Tateyama in den Bummelzug und war zwei Stationen später in Chikura. Er erkundigte sich in dem Fremdenverkehrsbüro am Bahnhof nach einer preiswerten Unterkunft. Da die Badesaison vorbei war, bekam er problemlos ein Zimmer in einer einfachen Pension, in der hauptsächlich Angler übernachteten. Es war klein, aber sauber, und duftete nach neuen Tatami-Matten. Es lag im ersten Stock, und vom Fenster aus konnte man den Fischerhafen sehen. Das Frühstück war inbegriffen, und alles in allem war es billiger, als er erwartet hatte.
Er wisse noch nicht genau, wie lange er bleiben würde, und wolle vorläufig für drei Tage im Voraus bezahlen, erklärte Tengo der Wirtin. Sie hatte keine Einwände. Um elf würde abgeschlossen, und Damenbesuch sei nicht erwünscht, teilte sie ihm mit. Tengo hatte ebenfalls nichts einzuwenden. Nachdem er sich in seinem Zimmer eingerichtet hatte, rief er im Sanatorium an und fragte die Krankenschwester, die abhob (es war jene mittleren Alters, die er bereits kannte), ob er seinen Vater gegen drei Uhr am Nachmittag besuchen könne.
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