Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
danke dir für deinen Rat«, sagte Aomame.
    »Ich möchte, dass du eins weißt«, sagte Tamaru. »Wir geben dir Rückendeckung, so weit wie möglich. Falls bei dir jedoch irgendwann eine Notsituation eintritt – welcher Art auch immer –, könnte es passieren, dass du auf dich selbst gestellt bist. Vielleicht bin ich, auch wenn ich mich noch so sehr beeile, nicht rechtzeitig bei dir. Oder irgendwelche Umstände hindern mich daran, dir überhaupt zu Hilfe zu kommen. Falls zum Beispiel unsere Verbindung zu dir plötzlich als nicht mehr opportun gilt.«
    »Ich bin mir dessen absolut bewusst. Ich bleibe sozusagen auf eigene Gefahr hier, also muss ich darauf gefasst sein, mich selbst zu schützen. Mit dem Metallschläger und dem Ding, das du mir gegeben hast .«
    »Das Leben ist hart.«
    »Wo es Hoffnung gibt, muss es auch Prüfungen geben«, sagte Aomame.
    Wieder schwieg Tamaru einen Augenblick lang. »Hast du schon mal von dem ultimativen Test gehört, den die Beamten bei der stalinistischen Geheimpolizei absolvieren mussten?«
    »Nein.«
    »Der Anwärter wurde in einen quadratischen Raum gebracht, in dem nur ein ganz gewöhnlicher kleiner Holzstuhl stand. Sein Befehl lautete: ›Bring diesen Stuhl dazu, dass er ein Geständnis ablegt, und fertige ein Protokoll davon an. Vorher tust du keinen Schritt aus diesem Zimmer.‹«
    »Klingt ziemlich surreal.«
    »Ganz und gar nicht. Die Geschichte ist real bis in die letzte Konsequenz. Stalins totalitäres System war so real, dass er damit eine Million Menschen in den Tod schickte. Fast alle waren Landsleute von ihm. Wir leben ganz real in einer solchen Welt. Das sollte man sich immer wieder vor Augen führen.«
    »Du kennst eine Menge herzerwärmender Geschichten.«
    »So viele nun auch wieder nicht. Ich verfüge nur über den notwendigen Vorrat. Da ich keine systematische Ausbildung genossen habe, blieb mir nichts anderes übrig, als mir solche wirklich nützlichen Dinge nach und nach selbst anzueignen. Wo es Hoffnung gibt, muss es auch Prüfungen geben. Ein wahres Wort. Allerdings sind die Hoffnungen in der Minderzahl und meist abstrakt, während die Prüfungen zahlreich und konkret sind. Ebenfalls eine Erkenntnis, die mich das Leben gelehrt hat.«
    »Und welches Geständnis hat der angehende Geheimpolizist dem Holzstuhl am Ende abgepresst?«
    »Der Wert dieser Frage liegt im Nachdenken darüber«, sagte Tamaru. »Wie bei einem Kōan im Zen.«
    »›Zen und die Kunst, einen Stuhl zu verhören.‹«
    Nach einer kurzen Pause legte Tamaru auf.
    An diesem Nachmittag trainierte Aomame mit ihren neuen Geräten. Nach der langen Zeit genoss sie es, sich einmal wieder richtig zu verausgaben. Anschließend spülte sie sich unter der Dusche den Schweiß ab. Sie schaltete einen UKW -Sender ein und bereitete sich zu seinen Klängen eine leichte Mahlzeit zu. Anschließend sah sie sich die Abendnachrichten an (es war nichts dabei, was sie interessiert hätte). Als der Tag zur Neige ging, setzte sie sich auf den Balkon, um den Park zu beobachten. Mit einer leichten Decke, dem Fernglas und der Pistole. Und dem schönen, glänzenden Metallschläger.
    Wenn Tengo sich nicht mehr blicken lässt, dachte sie, werde ich mein eintöniges Leben in diesem Teil von Koenji weiterführen, bis dieses rätselhafte Jahr 1Q84 zu Ende geht. Ich werde kochen, trainieren, Nachrichten sehen und Proust lesen, während ich darauf warte, dass Tengo in dem Park auftaucht. Auf ihn zu warten ist zu meiner Lebensaufgabe geworden. Der seidene Faden, an dem mein Leben hängt. Ich bin wie eine der Spinnen, die ich auf der Treppe an der Stadtautobahn gesehen habe. Wie eine winzige schwarze Spinne, die in ihrem kümmerlichen Netz im Winkel eines schmutzigen Metallrahmens lauert. Der Wind zerrt daran, löst es, zerfetzt es. Damals hatte ich Mitleid mit ihnen. Und jetzt bin ich fast in der gleichen Lage wie diese Spinnen.
    Ich muss eine Kassette mit der Sinfonietta von Janáček haben. Ich brauche sie zum Trainieren. Dieses Stück verbindet mich mit irgendeinem unbestimmbaren Ort. Sie hat die Aufgabe, mich zu etwas hinzuführen. Ich muss sie auf die Liste für Tamarus nächste Lieferung setzen.
    Es war schon Oktober, und ihre Frist betrug nur noch drei Monate. Die Uhr tickte unaufhaltsam. Aomame rutschte tiefer in ihren Gartenstuhl und beobachtete zwischen den Kunststoffblenden hindurch den Park und die Rutschbahn. Die Quecksilberlaterne tauchte den kleinen Spielplatz in bläulich weißes Licht. Die Szenerie erinnerte

Weitere Kostenlose Bücher