1Q84: Buch 3
Aomame an die verlassenen Gänge in einem abendlichen Aquarium. Unsichtbare, phantastische Fische schwammen lautlos zwischen den Pflanzen umher. Niemals unterbrachen sie ihr stilles Gleiten. Am Himmel standen die beiden Monde und forderten Aomames Anerkennung.
»Tengo«, flüsterte Aomame. »Wo bist du?«
Kapitel 3
Tengo
Tiere, die Kleidung tragen
Nachmittags besuchte Tengo seinen Vater in dessen Zimmer im Sanatorium, schlug das jeweilige Buch auf, das er mitgebracht hatte, und las vor. Nach etwa fünf Seiten legte er eine Pause ein und las dann weitere fünf Seiten. Eigentlich las er sich die Bücher selbst laut vor. Romane, Biographien oder naturwissenschaftliche Werke. Das Wichtige war seine Stimme, nicht der Inhalt der Texte.
Tengo hatte keine Ahnung, ob sein Vater ihn hören konnte oder nicht. An seinem Gesicht war zumindest keinerlei Reaktion zu erkennen. Der ausgezehrte alte Mann lag mit geschlossenen Augen reglos in seinem Bett, und nicht einmal sein Atem war zu hören. Natürlich atmete er, aber Gewissheit darüber war nur zu erlangen, indem man ein Ohr auf seine Brust legte oder ihm einen Spiegel vor den Mund hielt. Eine Infusionsflüssigkeit rann aus einem Tropf in seinen Körper, und die geringe Menge seiner Ausscheidungen wurde durch einen Katheter abgeführt. Lediglich dieser langsame, minimale Austausch zeigte, dass er noch am Leben war. Mitunter rasierte ihn eine Krankenschwester mit einem elektrischen Rasierapparat und schnitt ihm mit einer Schere die weißen Haare, die aus Nase und Ohren sprossen. Sogar seine Augenbrauen wurden gestutzt. Bei diesem Anblick verwischte für Tengo ganz allmählich der Unterschied zwischen Leben und Tod. Existierte dieser Unterschied überhaupt? Oder glaubten die Menschen nur aus Bequemlichkeit so fest an ihn?
Gegen drei Uhr kam für gewöhnlich der Arzt und unterrichtete Tengo über den Zustand seines Vaters. Seine Erläuterungen waren stets kurz und gleichen Inhalts. Es gab keine Veränderung. Der alte Mann schlief einfach, und seine Lebenskraft schwand immer mehr. Anders ausgedrückt, er bewegte sich langsam, aber sicher auf seinen Tod zu. Die Möglichkeit, ihn medizinisch zu behandeln, bestand momentan nicht. Man konnte ihn nur in Ruhe schlafen lassen. Mehr konnte der Arzt auch nicht sagen.
Gegen Abend kamen zwei Pfleger, die Tengos Vater in einen Behandlungsraum transportierten, wo er untersucht wurde. Die Pfleger wechselten tageweise, aber keiner von ihnen sprach je ein Wort. Vielleicht lag es an dem großen Mundschutz, den sie trugen. Einer von ihnen schien Ausländer zu sein. Er war zierlich und von dunkler Hautfarbe und lächelte Tengo stets hinter seinem Mundschutz zu. Dass er lächelte, erkannte Tengo an den Augen des Mannes. Er lächelte zurück und nickte.
Nach einer halben bis einer Stunde wurde sein Vater in sein Zimmer zurückgebracht. Welche Untersuchungen man an ihm durchführte, war Tengo unbekannt. Er ging, sobald sein Vater abgeholt wurde, in die Cafeteria und trank einen heißen grünen Tee. Nachdem er dort etwas Zeit totgeschlagen hatte, kehrte er in das Krankenzimmer zurück – in der Hoffnung, auf dem leeren Bett noch einmal die Puppe aus Luft mit Aomame als Mädchen vorzufinden. Aber das geschah nicht mehr. In dem halbdunklen Raum erwartete ihn nur der Geruch nach Krankheit und das leere Bett mit der Einbuchtung, die der Körper seines Vaters hinterlassen hatte.
Tengo stellte sich ans Fenster und schaute nach draußen. Jenseits der Rasenfläche verlief das als Schutz gegen den Wind dienende Kiefernwäldchen. Dahinter rauschten laut und dumpf die rauen Wellen des Pazifiks wie das vereinte Flüstern zahlloser Geister, von denen jeder eine Geschichte zu erzählen hatte.
Tengo hatte das Sanatorium in Chikura bereits im Oktober zweimal aufgesucht. An freien Tagen war er in aller Frühe mit dem Expresszug dorthin gefahren, hatte am Bett seines Vaters gesessen und ihn ab und zu angesprochen. Der Vater hatte tief schlafend auf dem Rücken gelegen und keinerlei Reaktion gezeigt. Die übrige Zeit verbrachte Tengo fast ausschließlich damit, auf die Landschaft vor dem Fenster zu starren. Er erwartete, dass irgendetwas geschehen würde, sobald es Abend wurde. Aber nichts geschah. Die Sonne ging unter, und nichtssagende Dunkelheit hüllte das Zimmer ein. Resigniert war Tengo mit dem letzten Expresszug nach Tokio zurückgekehrt.
Irgendwann kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht dortbleiben und sich seinem Vater stellen musste. Wahrscheinlich
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