1Q84: Buch 3
»Natürlich«, sagte sie. »Herr Kawana schläft sowieso die ganze Zeit.«
So begannen Tengos Tage in der Stadt der Katzen. Er stand früh auf, ging am Strand spazieren, sah den Fischerbooten beim Auslaufen zu und kehrte dann in die Pension zurück, um zu frühstücken. Es gab zwar jeden Tag das Gleiche – getrocknete Makrele, Spiegelei, geviertelte Tomate, würzige Nori, Misosuppe mit Shijimi-Muscheln und dazu Reis –, aber aus irgendeinem Grund schmeckte es ihm stets aufs Neue. Nach dem Frühstück setzte er sich an seinen kleinen Tisch und schrieb auf kariertes Manuskriptpapier. Es machte ihm Spaß, wieder einmal mit Füller zu schreiben. In einer fremden Umgebung, fern von seinem Alltag, zu arbeiten fühlte sich anders und gar nicht übel an. Besonders gefiel ihm das vom Hafen herübertönende monotone Brummen der heimkehrenden Fischerboote.
Der Roman, an dem er schrieb, spielte in einer Welt mit zwei Monden. Auch die Little People und Puppen aus Luft gab es dort. Er hatte die Welt aus Fukaeris Geschichte entlehnt, doch inzwischen war sie ihm gänzlich zu eigen geworden, und wenn er schrieb, tauchte er völlig in sie ein. Selbst wenn er den Füller einmal ablegte, hielt er sich im Geiste weiter dort auf. In solchen Momenten hatte er das Gefühl, dass sein Körper und sein Bewusstsein sich an verschiedenen Orten aufhielten, und er konnte kaum noch unterscheiden, bis wohin die Realität reichte und wo die Fiktion begann. Der Held aus Die Stadt der Katzen hatte bestimmt eine ganz ähnliche Erfahrung gemacht. Er war ausgezogen, ohne den Schwerpunkt seiner Welt zu kennen. Und konnte (vielleicht) deshalb nie mehr einen Zug besteigen, der die Stadt verließ.
Um elf Uhr musste Tengo sein Zimmer verlassen, weil sauber gemacht wurde. Dann unterbrach er die Arbeit und schlenderte zum Bahnhof, wo er sich in ein Café setzte. Mitunter aß er auch ein Sandwich, aber meistens bestellte er nur einen Kaffee. Während er ihn trank, blätterte er die ausliegenden Morgenzeitungen sorgfältig nach Artikeln durch, die ihn betrafen. Aber er entdeckte nie etwas. Die Puppe aus Luft war längst von den Bestseller-Listen verschwunden. Auf Platz eins stand jetzt das Diätbuch Essen, was schmeckt, und dabei schlank werden . Ein Buch mit diesem Titel würde sich wahrscheinlich auch verkaufen, wenn sämtliche Seiten leer wären.
Sobald Tengo mit seinem Kaffee und den Zeitungen fertig war, machte er sich mit dem Bus auf den Weg zum Sanatorium, sodass er in der Regel zwischen halb zwei und zwei dort ankam. Als Erstes plauderte er ein wenig mit der Schwester an der Rezeption. Seit Tengo sich in Chikura aufhielt und seinen Vater jeden Tag besuchte, behandelten ihn die Schwestern viel liebenswürdiger als zuvor. Wie eine Familie, die freudig die Rückkehr des verlorenen Sohnes begrüßte.
Im Sanatorium arbeitete auch eine zierliche junge Krankenschwester mit großen Augen, roten Wangen und einem Pferdeschwanz, die stets verlegen lächelte, wenn Tengo sie ansah. Sie schien ein gewisses Interesse an ihm zu haben. Vermutlich war sie Anfang zwanzig. Doch seit Tengo die schlafende Aomame in der Puppe aus Luft gesehen hatte, dachte er nur noch an sie. Alle anderen Frauen, denen er begegnete, glitten lediglich als blasse Schatten an ihm vorüber. Aomame war ständig in seinem Kopf. Er wusste nun, dass sie irgendwo in seiner Nähe lebte, vielleicht sogar auf der Suche nach ihm war und sich ihm deshalb an jenem Abend auf diesem besonderen Weg gezeigt hatte. Auch sie hatte Tengo nicht vergessen.
Er hatte sie mit eigenen Augen gesehen – wenn es keine Halluzination gewesen war.
Mitunter wurde Tengo durch irgendetwas an seine ältere, verheiratete Freundin erinnert. Was sie wohl jetzt gerade tat? Sie sei verlorengegangen , hatte ihr Mann am Telefon gesagt. Und Tengo sie deshalb nie wiedersehen könne. Verlorengegangen. Diese Ausdrucksweise beunruhigte ihn noch immer. Die Worte hatten zweifellos einen unheilvollen Klang.
Dennoch rückte die Erinnerung an Kyoko allmählich in immer weitere Ferne. Schon jetzt hatten die mit ihr verbrachten Nachmittage nur noch die Bedeutung längst vergangener Ereignisse. Tengo hatte deshalb ein schlechtes Gewissen, doch inzwischen hatte sein Schwerpunkt sich verlagert. Die Sache war abgeschlossen. Er konnte die Zeit nicht mehr zurückdrehen.
Nachdem Tengo das Zimmer seines Vaters betreten hatte, setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett und begrüßte ihn kurz. Dann erzählte er ihm der Reihe nach, was er
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