1Q84: Buch 3
Jung, der Psychologe?«
»Genau.«
»Ich weiß ein paar Dinge über ihn«, sagte Ushikawa argwöhnisch. »Er wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Schweiz geboren. Er war ein Schüler von Freud, hat sich aber von ihm losgesagt. Er hat den Begriff des Kollektiven Unbewussten geprägt. Das ist ungefähr alles, was ich weiß.«
»Das genügt«, sagte Tamaru.
Ushikawa wartete darauf, dass er weitersprach.
»C. G. Jung besaß eine elegante Villa am Zürichsee und führte dort mit seiner Familie ein kultiviertes und komfortables Leben. Aber er brauchte einen Ort, an dem er allein sein und intensiv nachdenken konnte. In der Nähe eines Dorfes namens Bollingen am Oberen Zürichsee fand er ein ruhig gelegenes Grundstück und baute sich dort ein kleines Haus. Es war kein aufwendiger Sommersitz oder so etwas. Er legte selbst Stein auf Stein und baute ein rundes Haus mit hohen Decken. Die Steine dafür stammten aus einem Steinbruch ganz in der Nähe. Damals brauchte man in der Schweiz ein besonderes Handwerksdiplom, wenn man mit Stein arbeiten wollte, und Jung erwarb es eigens zu diesem Zweck. So wichtig war es ihm, dieses Haus mit eigenen Händen zu bauen. Anscheinend trug auch der Tod seiner Mutter sehr zu seinem Entschluss bei.«
Tamaru machte eine kurze Pause.
»Dieses Haus wird ›der Turm‹ genannt. Inspirieren ließ sich Jung dazu von den dörflichen Hütten, die er auf seiner Reise nach Afrika gesehen hatte. Das Innere bestand aus einem großen, nicht unterteilten Raum, in dem sich das ganze Leben abspielte. Der ›Turm‹ war eine sehr einfache Behausung. Doch Jung fand, dass man mehr zum Leben nicht brauchte. Er ließ weder Strom-, noch Gas-, noch Wasserleitungen legen. Wasser bezog er aus den nahen Bergen. Im Nachhinein erkannte er, dass diese Lebensweise einen Archetyp darstellte. Mit der Zeit erwies es sich als nötig, das Gebäude in mehrere Räume zu unterteilen. Später kamen auch ein Stockwerk und mehrere Anbauten hinzu. Die Wände verzierte er eigenhändig mit Motiven, die die Abspaltung und Entwicklung des individuellen Bewusstseins illustrierten. Das Haus fungierte sozusagen als ein dreidimensionales Mandala. Es dauerte etwa zwölf Jahre, bis er es als vollendet ansah. Vor allem für Wissenschaftler, die sich mit C. G. Jungs Werk beschäftigen, ist es ein hochinteressantes Gebäude. Hast du schon mal davon gehört?«
Ushikawa schüttelte den Kopf.
»Es steht noch immer am Zürichsee. Nachfahren von C. G. Jung verwalten es, doch leider ist es der Öffentlichkeit nicht zugänglich, und man kann das Innere nicht besichtigen. Aber am Eingang soll es einen Stein geben, in den Jung eigenhändig etwas eingemeißelt hat, nämlich die Worte: ›Kalt oder nicht, Gott ist hier‹.«
Tamaru machte eine kurze Pause.
»›Kalt oder nicht, Gott ist hier‹«, wiederholte er mit ruhiger Stimme. »Verstehst du, was das bedeutet?«
Ushikawa schüttelte den Kopf. »Nein, keine Ahnung.«
»Ich auch nicht. Bestimmt ist es etwas sehr Tiefsinniges. Zu schwierig für mich. Jedenfalls hat C. G. Jung diesen Spruch vor dem Haus eingemeißelt, das er selbst entworfen und mit eigenen Händen gebaut hatte. Aus irgendeinem Grund hat mich dieser Satz schon immer stark beeindruckt. Ich kann seinen Sinn nicht begreifen, aber er berührt mich tief im Inneren. Mit Gott kenne ich mich nicht aus. Besser gesagt, ich hatte keinen besonders guten Eindruck von ihm, weil ich in einem katholischen Waisenhaus aufgewachsen bin und ziemlich üble Erfahrungen gemacht habe. Es war immer kalt dort, sogar im Hochsommer. Ziemlich kalt oder verdammt kalt, eins von beidem. Falls es einen Gott gibt, kann ich – weiß Gott – nicht behaupten, dass er mich besonders gut behandelt hat. Trotzdem ist dieser Satz bis in den letzten Winkel meiner Seele gedrungen. Mitunter schließe ich die Augen und wiederhole ihn endlos. Es ist erstaunlich, wie sehr mich das beruhigt. ›Kalt oder nicht, Gott ist hier‹. Würde es dir etwas ausmachen, es auch einmal zu sagen?«
»›Kalt oder nicht, Gott ist hier‹«, sagte Ushikawa leise und ziemlich verwundert. Was wollte der Mann?
»Ich kann dich nicht richtig verstehen.«
»›Kalt oder nicht, Gott ist hier‹«, sagte Ushikawa wieder, diesmal möglichst deutlich.
Tamaru schloss die Augen und genoss den Nachhall der Worte. Dann atmete er tief ein und aus, als sei er endlich zu einem Entschluss gelangt. Er öffnete die Augen und betrachtete seine Hände. Um Fingerspuren zu vermeiden, trug er dünne
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