1Q84: Buch 3
erreichen.«
»Könnten Sie mir die Umstände nicht etwas ausführlicher erklären? Was wollen Sie noch immer von Aomame? Was hat die Situation so sehr verändert?«
Der andere atmete einmal leise durch. »Wir müssen weiterhin die Stimmen hören. Für uns sind sie wie ein sprudelnder Quell. Wir dürfen sie niemals verlieren. Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen.«
»Und um diesen Quell zu erhalten, brauchen Sie Aomame.«
»Das kann man nicht mit einem Wort erklären. Sie hat damit zu tun. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Und was ist mit Eriko Fukada? Die brauchen Sie wohl nicht mehr?«
»Nein, im Augenblick nicht. Es spielt keine Rolle, wo sie ist und was sie macht. Sie hat ihre Aufgabe beendet.«
»Welche Aufgabe?«
»Das ist eine heikle Frage«, sagte der andere nach einer kurzen Pause. »Tut mir leid, aber auf die genaueren Umstände kann ich hier nicht weiter eingehen.«
»Sie sollten lieber mal Ihre Position bedenken«, sagte Tamaru. »Im Augenblick verteile ich hier nämlich die Karten. Ich kann Sie jederzeit erreichen, Sie mich nicht. Sie wissen ja nicht einmal, mit wem Sie es zu tun haben. Oder?«
»Sie haben völlig recht. Im Moment haben Sie die Oberhand. Wir wissen nicht, wer Sie sind. Aber das sind keine Dinge, die man am Telefon besprechen sollte. Ich habe schon viel zu viel gesagt. Mehr, als ich hätte sagen dürfen.«
Tamaru schwieg einen Moment. »Also gut«, sagte er dann. »Ich denke über Ihren Vorschlag nach. Auch ich muss mich beraten. Wahrscheinlich melde ich mich in ein paar Tagen.«
»Ich erwarte Ihren Anruf«, sagte der andere. »Und ich wiederhole, es soll unser beider Schade nicht sein.«
»Und wenn wir Ihren Vorschlag ignorieren oder ablehnen?«
»Dann müssen wir auf unsere Weise vorgehen. Wir sind nicht ganz machtlos. Vielleicht laufen die Dinge dann ungewollt aus dem Ruder, und es kommt zu Unannehmlichkeiten für alle Beteiligten. Auch Sie, wer immer Sie sind, werden nicht ungeschoren davonkommen. Vermutlich wird die Sache für beide Parteien ungünstige Folgen haben.«
»Schon möglich. Aber das kann dauern. Und wie Sie sagen, die Zeit drängt.«
Der andere hüstelte. »Es kann dauern oder auch nicht.«
»Das weiß man erst, wenn es so weit ist, meinen Sie?«
»Ganz recht«, sagte der andere. »Dann gibt es noch einen wichtigen Punkt, auf den ich Sie hinweisen muss. Erlauben Sie, dass ich Ihren Vergleich verwende? Sie verteilen die Karten, das ist ganz klar. Aber Sie scheinen die Grundregeln des Spiels noch nicht zu kennen.«
»Auch die versteht man meistens erst, wenn man wirklich spielt.«
»Es macht aber keinen Spaß, draufloszuspielen und dann aus Unkenntnis zu verlieren.«
»Das gilt für alle Parteien«, sagte Tamaru.
Ein kurzes, vielsagendes Schweigen trat ein.
»Und was machen Sie mit Herrn Ushikawa?«, fragte Tamaru.
»Wir holen ihn schnellstmöglich ab. Noch heute Nacht.«
»Die Wohnung ist nicht abgeschlossen.«
»Da sind wir sehr dankbar«, sagte der andere.
»Werden Sie auch um Herrn Ushikawa trauern?«
»Wir trauern immer, wenn ein Mensch stirbt, ganz gleich, wer er war.«
»Das sollten Sie auch. Denn er war auf seine Weise ziemlich brillant.«
»Aber nicht brillant genug, nicht wahr?«
»Niemand ist so brillant, dass er ewig lebt.«
»Das denken Sie«, sagte der andere.
»Natürlich«, erwiderte Tamaru. »Sie nicht?«
»Ich erwarte Ihren Anruf«, sagte der andere kalt, ohne auf die Frage einzugehen.
Tamaru legte schweigend auf. Das Gespräch fortzuführen wäre überflüssig gewesen. Falls nötig, konnte er von sich aus wieder anrufen. Er verließ das Telefonhäuschen und ging zu seinem dunkelblauen, altmodischen und sehr unauffälligen Toyota Corolla. Er fuhr etwa fünfzehn Minuten und hielt an einem verlassenen Park. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand ihn sah, warf er die Plastiktüte mit den Handtüchern und dem Gummiring in einen Abfalleimer und die OP -Handschuhe dazu.
»Sie trauern um jeden Menschen, ganz gleich, wer er war«, flüsterte Tamaru, während er den Motor anließ und sich anschnallte. Das ist schön von ihnen, dachte er. Man sollte den Tod jedes Menschen betrauern. Und wenn es nur für kurze Zeit ist.
Kapitel 26
Aomame
Romantik
Am Dienstag kurz nach zwölf Uhr mittags klingelte das Telefon. Aomame saß, die Beine gegrätscht, auf der Yogamatte und dehnte ihren Lenden-Darmbeinmuskel, eine Übung, die viel schwerer war, als sie aussah. Schweiß sickerte durch ihr Hemd. Sie unterbrach ihre
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