1Q84: Buch 3
lügst.«
»Die Vorreiter wissen nichts davon«, brachte Ushikawa mühsam hervor.
»Endlich mal eine ehrliche Antwort. Die Sekte weiß also noch nichts von der Verbindung zwischen Aomame und Tengo Kawana. Du hast ihnen nichts davon erzählt. Habe ich recht?«
Ushikawa nickte.
»Hättest du mir von Anfang ehrlich geantwortet, wäre der Meeresgrund dir erspart geblieben. War es schlimm?«
Ushikawa nickte.
»Ich weiß. Ich habe vor längerer Zeit die gleiche Erfahrung gemacht«, sagte der Mann in leichtem Plauderton. »Niemand, der es nicht erlebt hat, weiß, wie schlimm es wirklich ist. Der Begriff Qual lässt sich nicht verallgemeinern. Individuelle Qualen haben individuelle Besonderheiten. Wenn du mir gestattest, ein bekanntes Zitat von Tolstoi abzuwandeln: Alle Formen von Glück ähneln einander, aber jeder Schmerz ist auf seine Weise schmerzhaft. Findest du nicht?«
Ushikawa nickte. Er rang noch immer ziemlich nach Luft.
Der Mann fuhr fort. »Deshalb wollen wir hier offen und ehrlich miteinander reden und immer die Wahrheit sagen. Einverstanden, Ushikawa?«
Ushikawa nickte.
»Solltest du mir wieder eine falsche Antwort geben, darfst du wieder einen Bummel auf dem Meeresgrund machen. Diesmal ein bisschen länger als vorhin. Etwas knapper wird es dann auch für dich. Wenn wir Pech haben, kommst du gar nicht mehr zurück. Das willst du doch nicht, oder, Ushikawa?«
Ushikawa schüttelte den Kopf.
»Wir beide scheinen einiges gemeinsam zu haben«, sagte der Mann. »Wir sind beide einsame Wölfe. Oder streunende Hunde. Genauer gesagt, von der Gesellschaft Geächtete. Wir hegen ein instinktives Misstrauen gegen Organisationen. Oder vielleicht sollte ich sagen, wir legen keinen Wert auf sie. Wir arbeiten immer allein. Entscheiden allein, handeln allein, tragen die Verantwortung allein. Wir nehmen Befehle von oben entgegen, sind aber weder Kollegen noch Untergebene. Wir verlassen uns nur auf unseren eigenen Verstand und unsere eigenen Fähigkeiten. Stimmt doch, oder?«
Ushikawa nickte.
»Das ist unsere Stärke«, sagte der Mann, »aber zugleich auch unsere Schwäche. In diesem Fall zum Beispiel warst du etwas übereifrig. Wolltest die Angelegenheit allein regeln. Statt deinen Auftraggebern Zwischenbericht zu erstatten, wolltest du den Ruhm für dich einheimsen. Dabei hast du deine Deckung vernachlässigt. So war es doch?«
Ushikawa nickte erneut.
»Gab es irgendeinen Grund für dich, so weit zu gehen?«
»Ich trage am Tod des Leaders Schuld.«
»Inwiefern?«
»Ich war derjenige, der Aomames Hintergrund überprüfen sollte. Ich habe die Frau gründlich durchleuchtet, bevor sie sie zu ihm ließen. Ich hatte nichts Verdächtiges entdeckt.«
»Dennoch hat sie sich bei ihm eingeschlichen, um ihn zu töten, und ihm praktisch den Gnadenstoß versetzt. Und du weißt, dass sie dich eines Tages dafür drankriegen. Du gehörst nicht zu ihnen und bist eigentlich äußerst entbehrlich. Noch dazu weißt du zu viel über ihre Interna. Und dir ist klar, dass du ihnen Aomames Kopf liefern musst, um am Leben zu bleiben. Richtig?«
Ushikawa nickte.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, sagte der Mann.
Wieso das denn? Ushikawa zermarterte sich den schiefen Schädel darüber, was diese Worte bedeuteten. Dann fiel es ihm ein.
»Stecken Sie hinter dem Anschlag auf den Leader?«, fragte er.
Darauf gab der Mann keine Antwort. Aber Ushikawa wusste, dass Schweigen nicht unbedingt eine abschlägige Antwort war.
»Was haben Sie mit mir vor?«, fragte er.
»Tja, was? Ehrlich gesagt weiß ich es auch noch nicht. Ich muss mir das in Ruhe überlegen. Es hängt auch von dir ab«, sagte Tamaru. »Ich möchte dir noch einige Fragen stellen.«
Ushikawa nickte.
»Ich will, dass du mir die entsprechende Telefonnummer von den Vorreitern gibst. Du musst ja so etwas wie eine Durchwahl haben.«
Ushikawa zögerte, aber schließlich sagte er die Nummer. Sie war nichts, wofür er jetzt sein Leben aufs Spiel setzen würde. Tamaru schrieb sie sich auf.
»Ein Name?«
»Den Namen kenne ich nicht«, log Ushikawa. Der andere kümmerte sich nicht darum.
» Harte Typen?«
»Ziemlich.«
»Aber keine Profis?«
»Sie verstehen ihr Handwerk. Führen die Befehle, die sie von oben bekommen, ohne Zögern aus. Aber Profis sind sie nicht.«
»Was hast du über Aomame rausgefunden?«, fragte Tamaru. »Weißt du, wo sie sich versteckt?«
Ushikawa schüttelte den Kopf. »So weit bin ich nicht gekommen. Deshalb hänge ich ja hier fest und observiere
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