1Q84: Buch 3
getragenen Wolken hatte auch er es nicht eilig. Es würde eben dauern, so lange es dauerte. Tengo stellte das Denken ein und suchte sich einen Platz in der dahinfließenden Zeit, an dem er sich niederließ, um sie natürlich und gleichmäßig verstreichen zu lassen. Das war im Moment das Wichtigste.
Mit geschlossenen Augen lauschte Tengo auf die Geräusche um ihn herum, als würde er einen Radiosender einstellen. Vor allem drang das unablässige Rauschen des Verkehrs von der Ringstraße 7 an seine Ohren, dem Rauschen des Pazifiks nicht unähnlich, wie man es im Sanatorium in Chikura hörte. Nur dass es dort noch vom Kreischen der Möwen unterbrochen wurde. Eine Weile lang war ein Signalton zu vernehmen, wie er beim Zurückstoßen eines Lastwagens entsteht. Ein großer Hund bellte warnend. Irgendwo weit weg schrie jemand nach einer anderen Person. Woher genau die einzelnen Laute kamen, konnte Tengo nicht ausmachen. Sobald er länger die Augen schloss, verlor er das Gefühl für die Distanz und die Richtung, aus denen die einzelnen Geräusche kamen. Der eisige Wind streifte ihn hin und wieder, aber er spürte die Kälte nicht. Tengo hatte im Augenblick keinen Sinn für äußere Reize und Empfindungen.
Plötzlich war jemand neben ihm und ergriff seine rechte Hand. Wie ein kleines, nach Wärme suchendes Tier hatte die fremde Hand sich in die Tasche seiner Lederjacke gestohlen und drückte Tengos große Hand. Als habe die Zeit einen Sprung gemacht, war alles schon geschehen, bevor es ihm bewusst wurde. Ohne Vorankündigung hatte die Entwicklung bereits die nächste Stufe erreicht. Wie seltsam, dachte Tengo mit geschlossenen Augen. Wie kommt das nur? Mitunter vergeht die Zeit so langsam, dass man es kaum aushält, und dann macht sie auf einmal einen Riesensatz.
Wie um sich zu versichern, dass er wirklich da war, drückte die Person Tengos breite Hand sehr fest. Mit langen, schlanken Fingern, denen eine große Kraft innewohnte.
Aomame, dachte Tengo. Aber er sprach es nicht aus. Auch öffnete er nicht die Augen. Er erwiderte nur den Druck. Er erinnerte sich an diese Hand. In den gesamten zwanzig Jahren hatte er nicht vergessen, wie sie sich anfühlte. Natürlich war es nicht mehr die kleine Hand eines zehnjährigen Mädchens. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte sie die verschiedensten Dinge berührt, aufgehoben und festgehalten. Unzählige Gegenstände in allen möglichen Formen. Auch war sie viel stärker geworden. Dennoch hatte Tengo sofort erkannt, dass es dieselbe Hand war. Die Art, wie sie die seine hielt, war die gleiche, und das Gefühl, das sie zu vermitteln versuchte, war ebenfalls das gleiche.
Innerhalb eines Augenblicks lösten sich die zwanzig Jahre in Tengo auf und verbanden sich zu einem Strudel. In seinem Inneren verdichteten sich sämtliche Erlebnisse, Worte und Werte, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten, zu einer dicken Säule, die sich wie auf einer Töpferscheibe drehte. Sprachlos wie ein Mensch, der Zeuge der Zerstörung und Wiedergeburt eines Planeten wird, verfolgte Tengo diese Szene.
Auch Aomame gab ihr Schweigen nicht auf. Stumm hielten die beiden sich auf der eisigen Rutschbahn an den Händen. Sie waren wieder das zehnjährige Mädchen und der zehnjährige Junge. Ein einsamer Junge und ein einsames Mädchen. In einem leeren Klassenzimmer zu Anfang des Winters. Sie wussten nicht, was sie einander geben konnten oder sich voneinander ersehnten. Dazu besaßen sie weder die Kraft noch die Kenntnis. Noch nie hatte jemand sie wirklich geliebt, noch nie hatten sie selbst jemanden wirklich geliebt. Noch nie hatte jemand sie umarmt und noch nie hatten sie jemanden umarmt. Sie wussten auch nicht, wohin dieses Abenteuer sie führen würde. Sie hatten damals ein Zimmer ohne Türen betreten, aus dem sie nicht mehr herauskonnten, doch deshalb konnte auch niemand hinein. Die beiden wussten es noch nicht, aber dies war der einzige vollkommene Ort auf der Welt. Völlig abgeschlossen, ohne dass Einsamkeit in ihn eindringen konnte.
Wie viel Zeit war auf diese Weise verstrichen? Vielleicht fünf Minuten, vielleicht auch eine Stunde. Vielleicht sogar ein ganzer Tag. Vielleicht war die Zeit auch gänzlich zum Erliegen gekommen. Was wusste Tengo überhaupt über die Zeit? Er wusste nur, dass er bis ans Ende aller Zeiten mit Aomame auf der Rutschbahn in diesem Park hätte sitzen und ihre Hand halten können. So war es ihm schon gegangen, als er zehn gewesen war, und nun, zwanzig Jahre später, war es
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