1Q84: Buch 3
genauso.
Und er wusste, dass er Zeit brauchen würde, um sich in der neuen Welt, die er betreten hatte, einzugewöhnen. Er musste lernen, ganz neu zu fühlen, zu sehen, zu sprechen, zu atmen und sich zu bewegen. Dazu musste er alle Zeit der Welt zusammenkratzen. Und vielleicht genügte diese eine Welt nicht einmal.
»Tengo«, flüsterte Aomame ihm ins Ohr. Ihre Stimme war weder hoch noch tief. Es war eine Stimme, die ein Versprechen für ihn bereithielt. »Mach die Augen auf.«
Tengo schlug die Augen auf. Die Zeit kam wieder in Gang.
»Die Monde sind da«, sagte Aomame.
Kapitel 28
Ushikawa
Und ein Teil seiner Seele
Eine Neonlampe an der Decke beleuchtete Ushikawas Leiche. Die Heizung war abgeschaltet, und ein Fenster stand offen. Das Zimmer war so kalt wie ein Kühlraum. In der Mitte hatte man mehrere Konferenztische zusammengeschoben und Ushikawa rücklings daraufgelegt. Er trug lange Unterhosen, und eine alte Decke war über ihn gebreitet, unter der sich sein Bauch wie ein Ameisenhügel auf flachem Feld wölbte. Über seine weit offenen, fragenden Augen – niemand hatte sie zu schließen vermocht – war ein kleines Tuch gelegt. Seine Lippen waren leicht geöffnet, doch nie mehr würde ein Atemzug oder ein Wort über sie kommen. Sein Schädel, eingerahmt von dem struppigen Kranz aus dichtem schwarzem Haar, das immer etwas an Schamhaar erinnerte, wirkte noch flacher und missgestalteter als zu seinen Lebzeiten.
Der Kahle trug eine dunkelblaue Daunenjacke und der Pferdeschwanz eine braune, halblange Wildlederjacke mit Pelzkragen. Beide Kleidungsstücke hatten nicht die richtige Größe, sie wirkten wie in aller Eile aus einem begrenzten Bestand herausgegriffen. Obwohl sie sich im Inneren des Hauses aufhielten, bildete ihr Atem weiße Wolken. Sie waren nur zu dritt: der Kahle, der Pferdeschwanz und Ushikawa. Oben an der Wand nahe der Decke befanden sich drei Fenster mit Aluminiumrahmen, von denen eins offen stand, um die Zimmertemperatur niedrig zu halten. Außer den Tischen, auf denen die Leiche lag, gab es keine Möbel. Der Raum war so funktionell und unpersönlich, dass selbst eine Leiche – selbst Ushikawas Leiche – darin wie ein funktioneller und unpersönlicher Gegenstand wirkte.
Niemand sprach. Im Raum herrschte vollkommene Stille. Der Kahle hatte über vieles nachzudenken, und der Pferdeschwanz hielt ohnehin den Mund. Ushikawa war zwar im Grunde ein redseliger Mann, doch leider hatte man ihn vor zwei Tagen zu unfreiwilligem Schweigen gebracht. Der Kahle schritt langsam und in Gedanken versunken vor den Tischen mit Ushikawas sterblicher Hülle auf und ab. Wenn er die Wand erreichte, machte er kehrt und verfiel wieder in den gleichen regelmäßigen Schritt. Seine Lederschuhe machten auf dem billigen gelbgrünen Teppichboden keinen Laut. Der Pferdeschwanz hatte wie üblich an der Tür Stellung bezogen und rührte sich nicht. Die Beine leicht gespreizt, den Rücken gerade, blickte er auf irgendeinen Punkt im Raum. Er schien weder Müdigkeit noch Kälte zu verspüren. Nur ein gelegentliches Blinzeln und die weißen Atemwolken, die er in regelmäßigen Abständen ausstieß, wiesen ihn als lebenden Organismus aus.
Gegen Mittag hatten sich in dem kalten Raum mehrere Personen zu einem Gespräch versammelt. Ein Mitglied der Führungsriege hatte sich aus der Provinz herbemühen müssen, und ein ganzer Tag war mit Warten verstrichen. Das Treffen war geheim, und man sprach leise und verhalten, damit ja nichts nach außen durchsickerte. Während der ganzen Zeit lag Ushikawa da wie ein Ausstellungsstück auf einer Messe für Werkzeugmaschinen. Mittlerweile hatte die Leichenstarre eingesetzt, und es würde mindestens drei Tage dauern, bis sie sich wieder löste. Die Männer debattierten, hin und wieder kurze Blicke auf Ushikawa werfend, über praktische Fragen wie diese.
Während der ganzen Versammlung bekundete man weder einen Funken Respekt gegenüber dem Leichnam noch das geringste Mitgefühl – nicht einmal, wenn von dem Toten selbst die Rede war. Der steife, gedrungene Leichnam entlockte den Anwesenden lediglich ein paar abgedroschene Banalitäten und Lebensweisheiten. Man könne die Zeit nicht zurückdrehen. Wenn der Tod eine Lösung bedeute, dann allenfalls für den Toten und so weiter.
Dass Ushikawas Leiche beseitigt werden musste, stand von Anfang an fest. Die Frage lautete nur wie. Der Mann hatte auf unnatürliche Weise den Tod gefunden. Würde seine Leiche entdeckt, zöge dies ausführliche
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