1Q84: Buch 3
noch etwas?
Der Umschlag, den ihm der Anwalt in Chikura übergeben hatte, fiel ihm ein. Darin befanden sich das Sparbuch, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, eine beglaubigte Kopie seines Familienbuchs und das geheimnisvolle (mutmaßliche) Familienfoto. Vielleicht sollte er diese Dinge lieber mitnehmen. Seine Zeugnisse aus der Grundschule und die Belobigungsurkunde von NHK ließ er natürlich zurück. Er beschloss, auch keine Kleidung und kein Waschzeug mitzunehmen. Sie hatten keinen Platz mehr in seiner Mappe. Außerdem konnte man solche Dinge jederzeit kaufen.
Als alles eingepackt war, hatte er vorläufig nichts mehr zu tun. Es gab weder Geschirr zu spülen noch Hemden zu bügeln. Noch einmal sah er auf die Uhr. Halb elf. Er dachte daran, den Freund anzurufen, der ihn an der Schule vertrat, aber dann fiel ihm ein, dass dieser immer so schlecht gelaunt war, wenn man ihn am Vormittag anrief.
Tengo legte sich angezogen aufs Bett und ließ sich allerlei durch den Kopf gehen. Als er Aomame das letzte Mal gesehen hatte, waren sie beide zehn Jahre alt gewesen. Inzwischen waren sie dreißig und hatten alle möglichen Erfahrungen gemacht, angenehme wie weniger angenehme (vermutlich überwiegend letztere). Ihr Aussehen, ihre Persönlichkeit und ihre Lebensumstände hatten sich entsprechend verändert. Sie waren keine Kinder mehr. War diese Aomame wirklich die Aomame, nach der er sich sehnte? Und war er wirklich der Tengo, den sie all die Jahre gesucht hatte? Tengo stellte sich vor, wie sie sich am Abend auf der Rutschbahn treffen, einander ins Gesicht sehen und enttäuscht sein würden. Vielleicht würden sie sich nicht das Geringste zu sagen haben. Das war durchaus möglich. Es war sogar wahrscheinlich.
Vielleicht sollten wir uns lieber gar nicht treffen?, fragte Tengo die Zimmerdecke. Wäre es nicht besser, sich für immer nach dem anderen zu sehnen, ohne sich zu begegnen? Für immer mit der Hoffnung zu leben? Denn die Hoffnung war eine kleine, aber bedeutende Wärmequelle, die den Körper bis ins Innerste zu erwärmen vermochte. Eine kleine Flamme, die man, wenn man sie mit den hohlen Händen umschloss, vor dem Wind schützen konnte. Doch der scharfe Wind der Realität konnte sie leicht ausblasen.
Zwischen diesen beiden Empfindungen hin- und hergerissen, starrte Tengo etwa eine Stunde lang die Decke über seinem Bett an. Er kannte keinen größeren Wunsch, als Aomame zu sehen. Zugleich war seine Furcht davor fast unerträglich. Der Gedanke an das steife, unbehagliche Schweigen und die kalte Enttäuschung, die womöglich daraus folgen würden, ließ ihn fast verzagen. Ihm war wirklich, als würde er entzweigerissen. Tengo war größer und kräftiger als die meisten Menschen, aber er wusste um die verborgenen Schwächen, die die Kehrseite dieser Kraft bildeten. Und doch musste er Aomame sehen. Zwanzig Jahre lang hatte er sich so sehr danach gesehnt. Ganz gleich, wie groß die Enttäuschung war, die aus ihrer Begegnung entstehen mochte, er konnte sich nicht einfach umdrehen und weglaufen.
Auch an die Decke zu starren ermüdet, und Tengo schlief auf dem Rücken liegend ein. Vierzig bis fünfundvierzig Minuten lang schlief er tief und traumlos, was ihn nach seinen anstrengenden Grübeleien sehr erquickte. In den letzten Tagen hatte er nur wenig und unregelmäßig geschlafen. Bevor es dunkel wurde, musste er die in ihm angestaute Müdigkeit loswerden, damit er mit frischer Kraft zum Spielplatz aufbrechen konnte. Er spürte, dass er Ruhe brauchte.
Im Einschlafen hörte Tengo noch Kumi Adachis Stimme. Oder vermeinte, sie zu hören. Wenn der Morgen graut, musst du von hier fort. Solange der Ausgang noch nicht versperrt ist.
Es war Kumi Adachis Stimme und die der Eule zugleich. In seiner Erinnerung verschmolzen die beiden zu einer. Was Tengo mehr brauchte als alles andere, war ihre Weisheit. Die Weisheit der Nacht, deren dicke Wurzeln sich bis tief hinab in die Erde senkten. Im Schlaf würde er sie vielleicht finden.
Um halb sieben hängte Tengo sich seine Tasche um und verließ die Wohnung. Wie bei seinem letzten Abstecher zur Rutschbahn trug er den grauen Anorak, die alte Lederjacke, Jeans und braune Laufschuhe. Die Sachen waren schon etwas abgetragen, aber er fühlte sich wohl darin. Sie waren fast wie eine zweite Haut. Wahrscheinlich würde er nie mehr zurückkommen. Also nahm er sicherheitshalber die Namensschilder von der Tür und vom Briefkasten an sich. Über alles Weitere konnte er später noch
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