1Q84: Buch 3
konfrontiert. Fast unbemerkt war auch der Zorn verflogen, der mitunter wie eine Woge über ihr zusammengeschlagen war, und mit ihm die heftigen Gefühlsausbrüche, bei denen sie sinnlos gegen die Wand hätte hämmern mögen. Warum er fort war, wusste sie nicht, aber er kam nicht wieder. Und Aomame war dankbar dafür. Nie wieder wollte sie jemandem ein Leid antun. Auch sich selbst nicht.
In Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte, dachte sie an Tamaki Otsuka und Ayumi Nakano. Wenn sie die Lider schloss, wurde die Erinnerung an ihre Umarmungen lebendig. Beide hatten geschmeidige, schöne, warme Körper, und ihr Fleisch verhieß Liebe und Geborgenheit. Junges Blut floss in ihnen, und ihre Herzen schlugen in regelmäßigem Rhythmus und wohltönend. Leises Seufzen und Kichern ertönte. Schlanke Finger, steife Brustwarzen, glatte Schenkel … Aber beide waren nicht mehr auf dieser Welt.
Laut- und gestaltlos wie weiches, dunkles Wasser strömte die Trauer in Aomames Herz. Sie dachte mit aller Kraft an Tengo. Weckte in sich die Erinnerung an seine Hand, die sie damals in dem leeren Klassenzimmer gehalten hatte. Sie rief sich vor Augen, wie er auf der Rutschbahn gesessen hatte, und stellte sich vor, wie er sie in die Arme nahm, in die starken Arme eines dreißigjährigen Mannes.
Er war in ihrer Reichweite gewesen.
Vielleicht kann ich ihn beim nächsten Mal wirklich erreichen, dachte sie. Sie schloss die Augen und überließ sich ihrer Sehnsucht.
Aber was soll aus mir werden, wenn ich ihn nie wiedersehe? Aomames Herz zog sich zusammen. Alles war einfacher gewesen, als kein wirklicher Berührungspunkt mit Tengo existiert hatte. Dem erwachsenen Tengo zu begegnen war nicht mehr als ein Traum, eine abstrakte Idee gewesen. Doch nun, wo sie ihn tatsächlich gesehen hatte, war sie viel stärker von ihm beeindruckt. Sie wollte unter allen Umständen zu ihm. Ihn umarmen und überall liebkosen. Allein der Gedanke, dass sich dies als unmöglich herausstellen könnte, gab ihr das Gefühl, körperlich und seelisch entzweigerissen zu werden.
Vielleicht hätte ich mir vor dem Plakat mit dem Esso-Tiger doch eine Kugel durch den Kopf jagen sollen, dachte sie. Dann wäre ich jetzt tot und müsste mich nicht quälen. Aber sie hatte ja gar nicht mehr abdrücken können, als die ferne Stimme ihren Namen gerufen hatte. Unvermittelt hatte die Vorstellung, Tengo wiederzusehen, von ihr Besitz ergriffen, sodass sie ganz einfach weiterleben musste. Selbst wenn sie ihn damit in Gefahr bringen würde, wie der Leader behauptet hatte, konnte sie sich nicht anders entscheiden. Ein starker, fast irrationaler Lebenswille war in ihr aufgewallt. Und nun loderte dieses heftige Verlangen nach Tengo in ihr. Ein unstillbarer Durst und eine verzweifelte Hoffnung.
Aomame erkannte, dass darin der Sinn ihres Weiterlebens lag. Die Hoffnung ist der Brennstoff und Lebenszweck des Menschen. Ohne Hoffnung kann ein Mensch nicht leben. Aber es war wie mit einer Münze. Ob Kopf oder Zahl, das wusste man erst, wenn man sie geworfen hatte. Die Angst drückte ihr das Herz zusammen. So sehr, dass sämtliche Knochen in ihrem Leib krachten.
Sie nahm die Pistole und setzte sich an den Esstisch. Sie zog den Schlitten zurück, die Patrone glitt in die Kammer, sie spannte mit dem Daumen den Hahn und steckte sich den Lauf in den Mund. Als sie den rechten Zeigefinger leicht bewegte, ließ das Gefühl der Zerrissenheit sofort nach. Nur ein winziges Stückchen noch. Ich brauche den Zeigefinger nur noch einen Zentimeter, nein, fünf Millimeter, anzuziehen, dachte Aomame, und ich gehe in eine Welt der leidlosen Stille ein . Nur ein kurzer Schmerz und danach ein barmherziges Nichts. Sie schloss die Augen. Der Esso-Tiger mit dem Benzinschlauch in der Pfote lächelte sie freundlich an. Pack den Tiger in den Tank.
Sie zog den stählernen Lauf aus dem Mund und schüttelte langsam den Kopf.
Sie konnte nicht sterben. Vor dem Balkon war der Park, und in dem Park war die Rutschbahn, und solange sie die Hoffnung hatte, dass Tengo dorthin zurückkehren würde, konnte sie nicht abdrücken. Diese Möglichkeit hatte sie im letzten Moment davon abgehalten. Ihr war, als habe sich in ihrem Herzen eine Tür geschlossen und eine andere sei aufgegangen. Sanft und geräuschlos. Aomame sicherte die Waffe und legte sie wieder auf den Tisch. Inmitten der Dunkelheit ihrer geschlossenen Lider bemerkte sie ein winziges Etwas, das ein schwaches Leuchten aussandte, welches nach und nach verlosch. Es
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