1Q84: Buch 3
Minuten, während derer sie reglos die Tür betrachtete. Im Treppenhaus war es wieder still. Nichts war zu hören. Mutig schlich sie zur Tür und schaute durch den Spion. Niemand zu sehen.
Sie sicherte die Pistole, atmete mehrmals tief durch und wartete, dass ihr Herzschlag sich beruhigte. Schließlich zündete sie das Gas wieder an und brühte sich einen grünen Tee auf. Sie redete sich ein, dass es nur ein Kassierer von NHK gewesen war. Aber der Tonfall des Mannes hatte etwas so Bösartiges und Krankhaftes gehabt. Sie konnte nicht beurteilen, ob er sie persönlich angesprochen hatte oder diese fiktive Frau Takai. Aber die heisere Stimme und das hartnäckige Klopfen hatten einen gewissen Ekel hinterlassen, so als habe sich ein klebriger Film auf ihre Haut gelegt.
Aomame zog sich aus, stieg unter die heiße Dusche und seifte sich gründlich ab. Nachdem sie frische Kleidung angezogen hatte, fühlte sie sich etwas besser. Das klebrige Gefühl auf ihrer Haut war verschwunden. Sie setzte sich aufs Sofa und trank den restlichen Tee. Sie wollte weiterlesen, konnte sich aber nicht mehr konzentrieren. Noch immer hallten Fetzen von dem, was der Mann gesagt hatte, in ihren Ohren wider.
»Sie denken, Sie kommen davon, wenn Sie nur lange genug durchhalten. Ja, verstecken Sie sich nur. Aber irgendwann kriegen wir Sie, auch wenn Sie sich noch so still verhalten.«
Aomame schüttelte den Kopf. Nein, der Mann hatte geblufft. Mit seinem Geschrei wollte er die Leute nur nervös machen. Er weiß nicht das Geringste über mich, dachte sie. Weder, was ich getan habe, noch, warum ich hier bin. Dennoch war ihr Herzschlag damit nicht zufrieden.
Aber irgendwann kriegen wir Sie, und wenn Sie sich noch so still verhalten.
Irgendwie klangen die Worte, als hätten sie noch eine hintergründige Bedeutung. Vielleicht war auch alles nur ein Zufall, aber es kam ihr so vor, als habe der Mann genau gewusst, wie er sie verunsichern konnte. Aomame gab es auf zu lesen und schloss die Augen.
Tengo, wo bist du?, dachte sie. Dann sagte sie es laut: »Tengo, wo bist du? Finde mich.«
Kapitel 6
Tengo
Mir juckt der Daumen sehr
Tengos Leben in der kleinen Stadt am Meer verlief ausgesprochen regelmäßig. Als er einen Rhythmus gefunden hatte, bemühte er sich, ihn nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten. Warum er das tat, wusste er selbst nicht, aber er hielt es für sehr wesentlich. Nach einem Morgenspaziergang schrieb er etwas, fuhr anschließend ins Sanatorium, um seinem Vater vorzulesen, kehrte dann in die Pension zurück und ging zu Bett. Dieser Ablauf wiederholte sich wie die monotonen Gesänge der Bauern beim Reissetzen.
Nach einer Reihe warmer Nächte wurde es erstaunlich kalt. Doch der Wechsel der Jahreszeiten hatte keinen Einfluss auf Tengos Leben, er führte es unbeirrt auf die gleiche Weise fort. Er versuchte, sich als möglichst unauffälliger Beobachter zu verhalten. Still und mit angehaltenem Atem wartete er auf jenen Moment . Der Unterschied zwischen den Tagen verschwamm zunehmend. Eine Woche verging, zehn Tage vergingen. Aber die Puppe aus Luft zeigte sich nicht. Wenn sein Vater am Spätnachmittag zur Untersuchung gebracht wurde, blieb stets nur die kleine, mitleiderregende Einbuchtung zurück.
Ob es ein einmaliges Ereignis war?, dachte Tengo. Er saß im Dämmerlicht des kleinen Raums und nagte an seinen Lippen. Eine besondere Offenbarung, die sich nicht wiederholen würde? Oder hatte er nur eine Halluzination gehabt? Niemand gab ihm Antwort auf diese Fragen. Es war nichts zu hören als das ferne Rauschen des Meeres und der Böen, die durch das schützende Kiefernwäldchen fuhren.
Tengo war nicht sicher, ob er sich auf dem richtigen Weg befand. Vielleicht vergeudete er in diesem der Realität entrückten Sanatorium und in der Stadt am Meer nur sinnlos seine Zeit. Aber selbst wenn dem so war, konnte er nicht mehr umkehren. In diesem Zimmer hatte er mit eigenen Augen die Puppe aus Luft und die kleine Aomame gesehen, die in ihrem schwachen Licht lag und schlief. Sogar ihre Hand hatte er berührt. Selbst wenn es das einzige Mal oder eine Halluzination gewesen war, wollte er die Erinnerung und das Bild dessen, was er gesehen hatte, für immer in seinem Herzen bewahren.
Als die Krankenschwestern merkten, dass Tengo so schnell nicht nach Tokio zurückfahren würde, behandelten sie ihn beinahe freundschaftlich. In ihren Pausen oder wenn ihr Dienst es zuließ, schauten sie im Zimmer des Vaters vorbei, um mit Tengo zu plaudern. Manchmal
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