1Q84: Buch 3
sie einen kurzen Mittagsschlaf. Die Zubereitung ihrer Abendmahlzeit nahm etwa eine Stunde in Anspruch. Meist aß sie noch vor sechs Uhr. Nach Sonnenuntergang ging sie auf den Balkon, setzte sich auf den Gartenstuhl und beobachtete den Spielplatz. Um halb elf ging sie zu Bett. Obwohl dieser Ablauf sich täglich wiederholte, empfand sie ihr Leben nicht als langweilig.
Aomame war kein geselliger Mensch und konnte längere Zeit ohne Gesprächspartner auskommen, ohne sich unwohl zu fühlen. Schon in der Grundschule hatte sie kaum mit anderen Kindern gesprochen. Die bittere Wahrheit war, dass niemand mit ihr geredet hatte, solange es nicht unbedingt nötig war. Sie war eine »blöde« Außenseiterin, wurde geschnitten und ausgegrenzt. Aomame fand das nicht fair. Wäre sie von sich aus unleidlich gewesen, hätte sie sich vielleicht damit abgefunden. Aber sie konnte ja nichts dafür, denn ein Kind muss tun, was seine Eltern von ihm verlangen. Sonst kann es nicht überleben. So war Aomame gezwungen, auch in der Schule vor dem Mittagessen laut zu beten und sonntags mit ihrer Mutter die halbe Stadt abzuklappern, um Leute zu bekehren. Aus religiösen Gründen durfte sie weder an Ausflügen zu Tempeln oder Schreinen noch an der Weihnachtsfeier teilnehmen. Ganz zu schweigen von den abgelegten Kleidern, die sie tragen musste. Aber das konnten die anderen Kinder nicht wissen, oder vielleicht wollten sie es auch gar nicht wissen. Sie fanden Aomame einfach nur unheimlich. Selbst die Lehrer schienen sich durch ihre Existenz gestört zu fühlen.
Natürlich hätte sie ihren Eltern etwas vorlügen und sich vor dem mittäglichen Gebet in der Schule drücken können. Aber das wollte sie nicht. Zum einen, um Gott – ob es ihn nun gab oder nicht – nicht zu betrügen, und zum anderen aus Wut über ihre Klassenkameraden. Wenn sie mich schon unheimlich finden, dann kann ich auch so unheimlich sein, wie es mir passt, dachte Aomame. So betete sie eigentlich eher aus Trotz gegen ihre Mitschüler und aus Stolz, weil sie sich im Recht fühlte.
Es war eine Qual für sie, jeden Morgen aufzustehen und sich anzuziehen, um in die Schule zu gehen. Häufig bekam sie vor lauter Angst Durchfall oder musste sich erbrechen. Mitunter hatte sie Fieber und Kopfschmerzen und fühlte sich wie gelähmt. Dennoch fehlte sie während der ganzen Schulzeit nicht einen einzigen Tag. Andernfalls hätte sie sich vielleicht nie wieder dazu überwinden können, in die Schule zu gehen. Aber das hätte bedeutet, dass sie vor ihren Mitschülern und Lehrern kapitulierte. Sicher wären sie sogar erleichtert gewesen, wäre sie dem Unterricht ferngeblieben, und diese Erleichterung gönnte Aomame ihnen nicht. Also schleppte sie sich Tag für Tag in die Schule, auch wenn sie noch so kaputt war. Stumm und mit zusammengebissenen Zähnen.
Verglichen mit diesen Qualen war es für Aomame ein Leichtes, allein in einer luxuriösen Wohnung eingesperrt zu sein, ohne mit jemandem reden zu können. Im Gegensatz dazu, was es bedeutet hatte, inmitten des fröhlichen Geplauders anderer Menschen zu andauerndem Schweigen verurteilt zu sein, war es ein Kinderspiel, an einem Ort zu schweigen, an dem sonst niemand war. Außerdem hatte sie genügend Bücher. Sie hatte mit Proust angefangen, achtete aber darauf, nie mehr als zwanzig Seiten an einem Tag zu lesen. Sie ließ sich Zeit mit der Suche nach der verlorenen Zeit und las sehr gründlich, Wort für Wort. Anschließend nahm sie eine andere Lektüre zur Hand. Vor dem Einschlafen las sie stets ein paar Seiten aus Die Puppe aus Luft , das sie gewissermaßen als Handbuch für ihr Leben im Jahre 1Q84 betrachtete. Außerdem hatte Tengo diese Sätze geschrieben.
Sie hörte auch Musik. Die alte Dame hatte ihr einen Karton Kassetten mit klassischer Musik geschickt: Symphonien von Mahler, Kammermusik von Haydn, Klaviermusik von Bach und auch verschiedene Aufnahmen der Sinfonietta . Zu einer von ihnen absolvierte sie ihr tägliches Training.
Leise schritt der Herbst voran. Während die Tage vergingen, bekam Aomame das Gefühl, ihr Körper werde allmählich transparent. Sie bemühte sich, möglichst nicht nachzudenken, was ihr natürlich nicht immer gelang. Wo Leere entsteht, entsteht auch der Drang, sie zu füllen. Zumindest musste sie niemanden hassen. Sie hatte keine Mitschüler oder Lehrer und war kein hilfloses Kind mehr, dem eine religiöse Überzeugung aufgezwungen wurde. Mit Männern, die ihre Frauen misshandelten, war sie auch nicht mehr
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