1Q84: Buch 3
und wohlgeformt. »Lesen Sie nur.«
Tengo begann langsam zu lesen. Es war eine jener Passagen, die man am besten laut las. Langsam, wie der Fluss der Zeit sich durch die Weiten der afrikanischen Landschaft wand.
»Wenn in Afrika nach vier Monaten Trockenzeit und Hitze die große Regenzeit beginnt, dann wird man überall von Wachstum, Frische und Duft überwältigt.
Doch die Farmer können der Freigebigkeit der Natur nicht so recht trauen. Sie lauschen ängstlich auf ein Diminuendo im Dröhnen des Regens. Das Wasser, das die Erde in den nächsten zwei Monaten trinkt, muss für alle Pflanzen, Tiere und Menschen reichen, damit sie die folgenden Monate ohne Regen überstehen.
Es ist ein herrlicher Anblick, wenn alle Wege der Farm nur noch klare Ströme von fließendem Wasser sind, und der Farmer watet frohen Herzens durch den Schlamm, hinaus zum blühenden Kaffeefeld. Doch mitten in der Regenzeit kommt es vor, dass abends die Sterne durch die dünne Wolkendecke leuchten. Dann steht der Farmer vor seinem Haus und starrt zum Himmel, hängt sich an ihn mit beiden Armen, als wolle er mehr Regen aus ihm melken, und schreit zu ihm auf: ›Gib mir genug, mehr als genug! Mein Herz liegt vor Dir offen, und ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Ertränke mich, wenn Du willst, doch töte mich nicht durch deine Launen, nicht durch Geiz, nicht durch Trockenheit. Keinen Coitus interruptus , Himmel, Himmel!‹« **
»Coitus interruptus?«, wiederholte die Krankenschwester stirnrunzelnd.
»Sie nimmt kein Blatt vor den Mund.«
»Trotzdem klingt das ziemlich drastisch, wenn man zu Gott spricht.«
»Stimmt«, pflichtete Tengo ihr bei.
»Ein kalter, farbloser, trockener Tag kann plötzlich Marka mbaya , das böse Jahr, ins Gedächtnis rufen. Damals ließen die Kikuyu ihre Kühe in der Nähe meines Hauses weiden, und unter den Hirten war ein Junge, der eine Flöte besaß und ab und zu eine kleine Melodie darauf spielte. Wenn ich später diese Melodie hörte, brachte sie mir in einem einzigen Moment unseren ganzen Kummer, unsere ganze Verzweiflung in Erinnerung, sie schmeckte so salzig wie Tränen. Doch gleichzeitig lag darin, unerwartet, überraschend eine Kraft, eine eigentümliche Süße. Haben die schweren Zeiten wirklich all das enthalten? Damals waren wir jung, es gab eine wilde Hoffnung. In diesen langen, traurigen Tagen geschah es, dass wir zu einer Einheit verschmolzen, so dass es möglich ist, dass wir uns auf einem anderen Planeten wiedererkennen und ein Ding dem anderen zuruft – die Kuckucksuhr und meine Bücher den mageren Kühen auf dem Rasen und den bekümmerten alten Kikuyu: ›Ihr wart auch dabei. Auch ihr seid ein Teil der Farm am Ngong gewesen.‹ Die schweren Zeiten segneten uns und vergingen wieder.«
»Was für eine lebendige Beschreibung«, sagte die Schwester. »Man sieht es direkt vor sich. Jenseits von Afrika, sagten Sie?«
»Ja.«
»Außerdem haben Sie eine gute Stimme. Tief und ausdrucksvoll. Sehr geeignet zum Vorlesen.«
»Danke.«
Die Schwester blieb auf dem Hocker sitzen, schloss einen Moment lang die Augen und atmete leise ein und aus. Als würde sie in den Nachhall der Sätze eintauchen. Unter dem weißen Kittel hob und senkte sich die Brust im Rhythmus ihres Atems. Der Anblick erinnerte Tengo an seine ältere Freundin. Er dachte daran, wie er sie an Freitagnachmittagen ausgezogen und ihre steifen Brustwarzen berührt hatte. An ihre tiefen Seufzer und ihre feuchte Vagina. Die Vorhänge waren zugezogen, und draußen fiel ein leiser Regen. Sie hielt mit der Hand seine Hoden umschlossen. Seltsamerweise erregte ihn die Erinnerung daran nicht. Die Szene und seine Empfindungen von damals wirkten fern und verschwommen, wie von einem dünnen Film überzogen.
Die Schwester öffnete die Augen und sah Tengo an, als habe sie seine Gedanken gelesen, aber in ihrem Blick lag nichts Missbilligendes. Mit einem leichten Lächeln erhob sie sich und schaute zu ihm hinunter.
»Ich muss gehen«, sagte sie. Nachdem sie ihr Haar berührt und sich vergewissert hatte, dass der Kugelschreiber an Ort und Stelle war, drehte sie sich um und verließ den Raum.
Tengo rief Fukaeri so gut wie jeden Abend an. Es sei den ganzen Tag nichts passiert, sagte sie jedes Mal. Das Telefon habe mehrmals geklingelt, aber sie habe, wie er gesagt habe, nicht abgenommen. Gut, sagte Tengo, einfach klingeln lassen, ist am besten.
Wenn Tengo sie anrief, ließ er es dreimal klingeln und legte dann auf. Gleich darauf
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