1Q84: Buch 3
rief er wieder an. Dann sollte sie abnehmen. Doch Fukaeri hielt sich häufig nicht an diese Vereinbarung und hob schon beim ersten Klingeln ab.
»Du hast schon wieder gleich abgenommen«, rügte Tengo sie dann.
»Macht doch nichts. Ich weiß ja, dass Sie es sind«, sagte Fukaeri.
»Du weißt, dass ich der Anrufer bin?«
»Bei den anderen gehe ich nicht ran.«
Vielleicht war so etwas möglich, dachte Tengo. Er selbst hatte auch immer gewusst, wenn Komatsu ihn anrief. Sein Klingeln hatte etwas Gehetztes, Nervöses. Als würde er permanent mit den Fingern auf der Schreibtischplatte trommeln. Aber letztlich war es nicht mehr als ein Gefühl, auf das man sich doch nicht fest verlassen konnte.
Fukaeris Tage verliefen ähnlich eintönig wie Tengos. Allerdings machte sie nie einen Schritt aus dem Haus und war die ganze Zeit allein. In der Wohnung gab es keinen Fernseher, und Lesen kam für sie auch nicht in Frage. Sie aß keine richtigen Mahlzeiten und hatte daher auch noch nicht einkaufen gehen müssen.
»Ich bewege mich kaum, also brauche ich auch nicht viel zu essen«, sagte Fukaeri.
»Was machst du denn so den ganzen Tag?«
»Nachdenken.«
»Über was?«
Sie beantwortete die Frage nicht. »Außerdem kommt die Krähe.«
»Die Krähe kommt immer einmal am Tag.«
»Nicht nur einmal, sie kommt mehrmals«, sagte das junge Mädchen.
»Dieselbe?«
»Ja.«
»Sonst war niemand da?«
»Der Mann von NHK .«
»Derselbe wie letztes Mal?«
»Er hat ganz laut gerufen: ›Herr Kawana, Sie sind ein Dieb.‹«
»Vor meiner Tür?«
»Damit es alle hören.«
Tengo überlegte einen Moment. »Kümmere dich nicht darum. Es hat nichts mit dir zu tun und schadet auch nichts.«
»Er hat gesagt, er weiß, dass ich mich hier verstecke.«
»Mach dir keine Gedanken«, sagte Tengo. »Er kann es nicht wissen. Er will dich nur einschüchtern. Die Leute von NHK machen das manchmal.«
Tengos Vater hatte häufig das Gleiche getan. Er war ja selbst dabei gewesen. Hatte an vielen Sonntagnachmittagen miterlebt, wie die Stimme des Vaters bösartig und bedrohlich durch Hausflure schallte. Er drückte die Fingerspitzen gegen seine Schläfe. Die Erinnerung rief gewisse unangenehme Symptome hervor.
»Geht es Ihnen gut«, fragte Fukaeri, als spüre sie aus der Stille etwas heraus.
»Ja, alles in Ordnung. Kümmere dich einfach nicht um den NHK -Mann.«
»Das hat die Krähe auch gesagt.«
»Na also«, sagte Tengo.
Seit er die beiden Monde am Himmel und die Puppe aus Luft im Krankenzimmer seines Vaters gesehen hatte, konnte ihn kaum noch etwas überraschen. Es schadete ja nicht, wenn Fukaeri sich ein bisschen mit der Krähe austauschte.
»Ich werde wohl noch etwas hierbleiben und nicht gleich nach Tokio zurückkommen. Macht dir das etwas aus?«
»Es ist besser, Sie bleiben noch«, sagte Fukaeri und legte auf. Das Gespräch endete so abrupt, als habe jemand mit einem scharfen Hackmesser die Leitung durchtrennt.
Als Nächstes rief Tengo in Komatsus Verlag an. Er war nicht da. Er sei zwar gegen eins kurz im Büro gewesen, aber bald wieder gegangen; wo er sei, wisse man nicht, und auch nicht, ob er heute noch einmal zurückkommen werde. Das war nicht ungewöhnlich. Tengo hinterließ die Nummer des Sanatoriums und sagte, er werde fast den ganzen Nachmittag dort zu erreichen sein. Komatsu möge ihn anrufen. Hätte er die Nummer seiner Pension angegeben, hätte die Gefahr bestanden, dass Komatsu mitten in der Nacht dort anrief.
Zuletzt hatte Tengo Ende September mit Komatsu telefoniert. Ziemlich kurz. Seither hatte er nichts von ihm gehört und seinerseits auch nicht versucht, ihn zu kontaktieren. Ende August war Komatsu für drei Wochen verschwunden. Er fühle sich nicht wohl und habe sich eine Zeitlang freigenommen, hatte Tengo bei einem Anruf im Verlag erfahren. Es war unklar, wo Komatsu sich damals aufhielt. Natürlich hatte Tengo sich Gedanken gemacht, wenn auch keine ernsthaften Sorgen. Komatsu war von Natur aus launisch und handelte grundsätzlich nur nach seinem Gutdünken. Vermutlich würde er irgendwann, als sei nichts gewesen, wieder an seinem Arbeitsplatz auftauchen.
Normalerweise wurde derart egozentrisches Verhalten in Firmen nicht geduldet. Aber Komatsus Kollegen kamen irgendwie damit zurecht und verhinderten, dass er in Schwierigkeiten kam. Er war zwar nicht beliebt, doch aus irgendeinem Grund gab es immer ein paar gutmütige Menschen, die ihn deckten. Auch der Verlag blickte mehr oder weniger über sein Verhalten
Weitere Kostenlose Bücher