1Q84: Buch 3
brachten sie ihm sogar Tee und Gebäck. Zuständig für die Pflege seines Vaters waren die etwa dreißigjährige Schwester Omura, die immer ihren Kugelschreiber in ihren Haarknoten steckte, und die rotwangige Schwester Adachi mit dem Pferdeschwanz. Sie wechselten sich dabei ab. Schwester Tamura – in mittlerem Alter und mit goldgerandeter Brille – war meist an der Rezeption beschäftigt, aber notfalls sprang sie auch in der Pflege ein. Alle drei Schwestern schienen persönlichen Anteil an Tengos Schicksal zu nehmen.
Außer in der bewussten Stunde während der Dämmerung plauderte auch Tengo gern mit ihnen und gab stets bereitwillig Auskunft auf ihre Fragen. Er berichtete, dass er an einer Yobiko Mathematik unterrichtete und nebenher schrieb. Dass sein Vater viele Jahre als Kassierer bei NHK beschäftigt gewesen sei. Er erzählte von seinen Judo-Erfolgen als Kind und von dem landesweiten Turnier in seiner Oberschulzeit. Er verschwieg auch nicht, dass er wegen eines Zerwürfnisses jahrelang nicht mit seinem Vater gesprochen hatte und dass seine Mutter gestorben war, ja, vielleicht sogar ihren kleinen Sohn und ihren Ehemann wegen eines anderen Mannes verlassen hatte. Unerwähnt ließ er natürlich, dass er für jemand anderen den Bestseller Die Puppe aus Luft geschrieben hatte. Die Sache mit den zwei Monden behielt er ebenfalls für sich.
Auch die drei Frauen erzählten von ihrem Leben. Alle drei stammten aus der Gegend und hatten nach der Oberschule Krankenschwester gelernt. Ihre Arbeit im Sanatorium war meist eintönig, die Dienstzeiten waren lang und unregelmäßig, aber sie waren froh, in ihrer Heimatstadt beschäftigt zu sein. Außerdem war die Belastung im Sanatorium geringer als in gewöhnlichen Krankenhäusern, wo es ständig um Leben und Tod ging. Die alten Menschen im Sanatorium verloren allmählich ihr Gedächtnis und starben, ohne ihre Lage zu begreifen. Nur selten floss Blut, Schmerzen und Ängste wurden auf ein Minimum reduziert. Es kam so gut wie nie vor, dass ein Patient nachts mit dem Krankenwagen eingeliefert wurde oder man sich mit weinenden Angehörigen auseinandersetzen musste. Abseits von Tokio waren die Lebenshaltungskosten weit weniger hoch, und obwohl ihre Gehälter nicht gerade üppig waren, konnten sie einigermaßen gut davon leben. Schwester Tamura – die mit der Brille – hatte fünf Jahre zuvor ihren Mann durch einen Unfall verloren. Sie lebte mit ihrer Mutter und ihren beiden Kindern in einem Ort in der Nähe. Die hochgewachsene Schwester Omura mit dem Kugelschreiber im Haar hatte zwei kleine Söhne, ihr Mann war Taxifahrer. Die kleine Schwester Adachi wohnte mit ihrer drei Jahre älteren Schwester, einer Friseuse, in einem Mietshaus am Stadtrand.
»Sie sind wirklich ein guter Sohn, Tengo«, sagte Schwester Omura, während sie den Infusionsbeutel wechselte. »Jeden Tag kommen Sie her. Angehörige, die einem Koma-Patienten vorlesen, sind eine große Seltenheit.«
Bei diesem Lob fühlte Tengo sich unbehaglich. »Ich konnte mir nur zufällig ein paar Tage freinehmen. Aber lange kann ich auch nicht bleiben.«
»Ganz gleich, wie lange die Leute freihaben, hier kommt keiner gern her«, sagte Schwester Omura. »Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber eine Krankheit wie diese, die keine Besserung verspricht, deprimiert die Angehörigen auch mit der Zeit.«
»Mein Vater hat sich gewünscht, dass ich ihm vorlese, irgendetwas, egal was. Als er noch bei Bewusstsein war, meine ich. Außerdem habe ich nichts anderes zu tun.«
»Was lesen Sie ihm denn vor?«
»Alles Mögliche. Passagen aus den Büchern, die ich selbst zufällig gerade lese.«
»Was lesen Sie denn im Augenblick?«
» Jenseits von Afrika von Tania Blixen.«
Die Schwester schüttelte den Kopf. »Kenne ich nicht.«
»Blixen ist Dänin. Sie hat das Buch 1937 geschrieben. Sie war mit einem schwedischen Adligen verheiratet, mit dem sie vor dem Ersten Weltkrieg nach Afrika ging. Dort hatten sie eine Farm. Nach ihrer Scheidung führte sie die Farm allein weiter. In dem Buch erzählt sie von ihren Erlebnissen.«
Nachdem die Schwester die Temperatur seines Vaters gemessen und den Wert in die Krankentabelle eingetragen hatte, steckte sie sich ihren Kugelschreiber wieder ins Haar und strich sich die Haare aus der Stirn. »Darf ich ein bisschen zuhören?«
»Ich weiß aber nicht, ob es Ihnen gefällt«, sagte Tengo.
Sie setzte sich auf einen Hocker und schlug die Beine übereinander. Sie waren etwas fleischig, doch dabei fest
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