1Q84: Buch 3
Morgenzeitung, setzte sich in ein benachbartes Café und trank eine Tasse heißen schwarzen Kaffee.
In der Zeitung stand nichts, das sein besonderes Interesse erregte hätte. Zumindest soweit er es an diesem Morgen sah, war die Welt ein ziemlich langweiliger, öder Ort. Obwohl die Zeitung von heute war, kam es Tengo so vor, als würde er eine Ausgabe von letzter Woche lesen. Er faltete sie zusammen und schaute auf seine Armbanduhr. Halb zehn. Die Besuchszeit im Sanatorium begann um zehn Uhr.
Seine Sachen für die Rückreise waren rasch gepackt. Er hatte ja nicht viel dabei. Ein paar Kleidungsstücke, Toilettenartikel, einige Bücher, einen Packen Schreibpapier, mehr nicht, alles passte in seine Segeltuchtasche. Er hängte sie sich über die Schulter, beglich die Zimmerrechnung und fuhr vom Bahnhof aus mit dem Bus zum Sanatorium. Es war Winter geworden. Kaum noch jemand fuhr morgens zum Strand. Er war der Einzige, der an der Haltestelle vor dem Sanatorium ausstieg.
Am Empfang trug er wie immer seinen Namen und die Uhrzeit in das Besuchsregister ein. Hinter der Theke saß eine junge Schwester, die er hin und wieder dort gesehen hatte. Sie hatte schrecklich lange, dünne Arme und Beine, und wenn sie lächelte, sah sie aus wie eine wackere, brave Spinne, die dem Wanderer einen Weg durch den Wald wies. In der Regel kümmerte sich die bebrillte, etwas ältere Schwester Tamura um den Empfang, aber nicht an diesem Morgen, was Tengo ein wenig erleichterte. Sie hätte bestimmt eine Anspielung darauf gemacht, dass er Schwester Adachi am Abend zuvor nach Hause gebracht hatte. Auch von Schwester Omura war nichts zu sehen. Sie schienen spurlos verschwunden und wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Wie die drei Hexen aus Macbeth .
Aber so war es natürlich nicht. Kumi Adachi hatte heute frei. Die beiden anderen hatten gesagt, sie hätten normalen Dienst; wahrscheinlich waren sie zufällig gerade irgendwo anders beschäftigt.
Tengo stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich das Zimmer seines Vaters befand. Er klopfte behutsam zweimal an und öffnete erst dann die Tür. Sein Vater lag wie immer im Bett und schlief. In seinem Arm war ein Schlauch, und seine Harnröhre war mit einem Katheter verbunden. Seit gestern hatte sich nichts verändert. Das Fenster war geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Die Luft im Raum war schal und abgestanden. Es roch nach einer ununterscheidbaren Mischung aus Medikamenten, Schnittblumen, dem Atem des Kranken, seinen Ausscheidungen und anderen Lebensäußerungen. Trotz nachlassender Lebenskraft und andauernder Bewusstlosigkeit änderte sich der Stoffwechsel im Prinzip nicht. Sein Vater befand sich noch immer auf dieser Seite der großen Wasserscheide. Am Leben sein hieß für ihn mit anderen Worten, verschiedene Gerüche auszudünsten.
Als Tengo das Krankenzimmer betrat, ging er direkt bis zum Fenster durch, zog die Vorhänge zurück und öffnete es weit, um frische Luft hereinzulassen. Es war ein wunderschöner Morgen, zwar ein wenig kühl, aber noch nicht richtig kalt. Sonnenstrahlen fielen ins Zimmer, und eine Brise vom Meer blähte die Vorhänge. Eine Möwe segelte mit elegant eingeklappten Beinen auf dem Wind über dem schützenden Kiefernwäldchen dahin. Eine Schar Spatzen hatte sich auf den Stromleitungen niedergelassen, und die kleinen Vögel flatterten ständig zwischen den Drähten hin und her wie Noten in einer ständig wechselnden Partitur. Eine Krähe mit einem großen Schnabel saß auf einer Straßenlaterne, sondierte aufmerksam die Umgebung und schien zu überlegen, was sie als Nächstes unternehmen sollte. Einige Wolken zogen in großer Höhe dahin. Sie wirkten wie abstrakte Gedanken, zu fern und zu weit oben, um etwas mit dem Leben der Menschen zu tun zu haben.
Mit dem Rücken zu seinem Vater betrachtete Tengo eine Weile die Aussicht. Belebtes und Unbelebtes. Bewegtes und Unbewegtes. Vor dem Fenster erstreckte sich die ewig gleiche Szenerie. Nichts Neues für ihn. Weil die Welt vorwärtsschreiten musste, schritt sie eben vorwärts. Sie erfüllte einfach nur die ihr auferlegte Pflicht. Wie ein billiger Wecker. Und Tengo betrachtete planlos die Landschaft, um den Moment noch ein wenig hinauszuschieben, in dem er seinem Vater schließlich gegenübertreten musste. Aber natürlich konnte er damit nicht ewig warten.
Endlich fasste er sich ein Herz und setzte sich auf den Rohrstuhl neben dem Bett. Sein Vater lag auf dem Rücken, das Gesicht zur Zimmerdecke gewandt, die Augen
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