1Q84: Buch 3
austragen.«
Aomame seufzte. »Bis Ende des Jahres lasst ihr mich hier. Ich falle keinem zur Last.«
Tamaru schwieg einen Moment. »Für den Rest des Jahres bleibst du hier. Wie versprochen. Aber dann bringen wir dich sofort an einen ungefährlicheren Ort, an dem du auch untersucht werden kannst. Keine Widerrede, okay?«
»Okay«, sagte Aomame. Aber sie war nicht überzeugt. Wäre sie imstande, fortzugehen, ohne Tengo gesehen zu haben?
»Ich habe einmal eine Frau geschwängert«, sagte Tamaru.
Einen Moment lang war Aomame sprachlos. »Du? Aber ich denke, du bist …«
»Schwul, genau. Kompromisslos. So war es von Anfang an, und so wird es auch bleiben.«
»Und trotzdem hast du eine Frau geschwängert?«
»Jeder kann sich mal irren«, sagte Tamaru. Aber es war nicht humorvoll gemeint. »Ich erspare dir die Einzelheiten, ich war noch sehr jung. Jedenfalls war es nur einmal, aber dafür ein Volltreffer.«
»Und was hat sie dann gemacht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht?«
»Ich wusste es, bis zum sechsten Monat der Schwangerschaft. Danach nicht mehr.«
»Im sechsten Monat kann man nicht mehr abtreiben.«
»Das weiß sogar ich.«
»Also ist das Kind wahrscheinlich zur Welt gekommen.«
»Ja.«
»Aber würdest du es dann nicht gern sehen?«
»Kein Interesse«, sagte Tamaru, ohne zu zögern. »Ich führe ein anderes Leben. Was ist mit dir? Würdest du dein Kind sehen wollen?«
Aomame überlegte. »Ich bin als Kind von meinen Eltern im Stich gelassen worden. Schwer zu sagen, wie es für mich sein wird, ein Kind zu haben. Mir fehlt das richtige Vorbild.«
»Dennoch willst du dieses Kind auf die Welt bringen. Auf diese brutale Welt voller Widersprüche.«
»Weil ich mich nach Liebe sehne«, sagte Aomame. »Nicht unbedingt nach der Liebe zwischen mir und dem Kind. Dieses Stadium habe ich noch nicht erreicht.«
»Aber das Kind hat etwas mit dieser Liebe zu tun.«
»Wahrscheinlich. In gewisser Weise.«
»Aber wenn du dich irrst und das Kind gar nichts mit der Liebe zu tun hat, nach der du dich sehnst, wird es verletzt werden. Genau wie wir.«
»Möglich wäre es. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass es so wird. Intuitiv.«
»Ich habe große Achtung vor der Intuition«, sagte Tamaru. »Aber wenn ein Ich einmal in diese Welt hineingeboren ist, vermag es nur als Träger des Ethischen zu leben. Daran sollte man immer denken.«
»Wer hat das gesagt?«
»Wittgenstein.«
»Ich werde es mir merken«, sagte Aomame. »Wie alt wäre dein Kind denn jetzt?«
Tamaru rechnete in Gedanken nach. »Siebzehn.«
»Siebzehn Jahre alt.« Aomame stellte sich einen siebzehnjährigen Teenager als Träger des Ethischen vor.
»Du kannst jetzt mit Madame darüber sprechen«, sagte Tamaru. »Sie möchte persönlich mit dir reden. Aber ich sage es immer wieder, ich heiße das nicht gut. Es ist zu unsicher. Auch wenn wir technische Abwehrmaßnahmen ergreifen, bleibt das Telefon ein gefährliches Kommunikationsmittel.«
»Ich weiß.«
»Sie ist sehr besorgt um dich.«
»Auch das weiß ich. Ich bin ihr sehr dankbar dafür.«
»Das Klügste ist, ihr zu vertrauen und ihrem Rat zu folgen. Sie verfügt über große Weisheit.«
»Natürlich«, sagte Aomame.
Dennoch muss ich meine Sinne schärfen und mich selbst schützen. Die alte Dame in Azabu ist sicherlich sehr weise. Und mächtig. Aber es gibt auch Dinge, die sie nicht weiß. Zum Beispiel, welchen Gesetzmäßigkeiten das Jahr 1Q84 gehorcht. Außerdem hat sie nicht bemerkt, dass am Himmel zwei Monde stehen.
Nach dem Telefonat legte Aomame sich aufs Sofa und schlief ungefähr eine halbe Stunde. Es war ein kurzer, tiefer Schlaf. Sie träumte, aber ihr Traum glich einem leeren Raum. In diesem Raum dachte sie über etwas nach. Sie schrieb mit unsichtbarer Tinte in ein schneeweißes Heft. Als sie aufwachte, war sie benommen, hatte aber seltsamerweise ein klares Bild gewonnen.
Ich werde dieses Kind zur Welt bringen, dachte sie. Das Kleine wird wohlbehalten zur Welt kommen. Und, wie Tamaru gesagt hatte, unvermeidlich als Träger des Ethischen. Sie legte die Handflächen auf ihren Unterleib und horchte in sich hinein. Es war nichts zu hören. Noch nicht.
Kapitel 12
Tengo
Die Gesetze der Welt beginnen sich zu lockern
Nach dem Frühstück ging Tengo ins Bad, um zu duschen. Er wusch sich die Haare und rasierte sich. Zog die Kleidung an, die er zuvor gewaschen und getrocknet hatte. Anschließend verließ er das Haus und kaufte sich an einem Bahnhofskiosk eine
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