1Q84: Buch 3
geschlossen. Die Decke, mit der man ihn bis zum Hals zugedeckt hatte, war kein bisschen verrutscht. Seine Augen lagen so tief in den Höhlen, dass diese die Augäpfel nicht mehr zu stützen schienen. Sollte sein Vater die Augen noch einmal aufschlagen, würde er wie aus einem tiefen Loch in die Welt hinaufblicken.
»Vater«, sprach Tengo ihn an.
Sein Vater antwortete nicht. Abrupt legte sich der Wind, der ins Zimmer wehte, sodass die Vorhänge schlaff nach unten hingen. Es war wie das Innehalten von jemandem, dem mitten in seiner Tätigkeit eine wichtige Frage eingefallen ist. Gleich darauf schien der Wind es sich anders überlegt zu haben und frischte wieder auf.
»Ich fahre jetzt nach Tokio zurück«, sagte Tengo. »Ich kann nicht ewig hierbleiben. Mehr Urlaub kann ich nicht nehmen. Schließlich habe ich auch ein Leben, auch wenn es vielleicht nicht sonderlich bedeutend ist.«
Der Bart seines Vaters war ein bisschen gewachsen. Ein Zwei- oder Dreitagebart. Die Schwestern rasierten ihn mit einem elektrischen Rasierapparat. Aber nicht jeden Tag. Die Stoppeln waren zur Hälfte weiß und zur Hälfte schwarz. Er war erst vierundsechzig, sah aber sehr viel älter aus. Als habe jemand seinen Lebensfilm irrtümlich und gedankenlos vorgespult.
»Jetzt bist du die ganze Zeit, in der ich hier war, nicht aufgewacht. Aber der Arzt sagt, dein körperlicher Zustand sei gar nicht so schlecht. Seltsamerweise bist du fast genauso gesund wie immer.«
Tengo machte eine Pause, damit seine Worte zu dem Angesprochenen vordringen konnten.
»Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Vielleicht versetzt meine Stimme ja nur dein Trommelfell in Schwingungen, aber der weitere Schaltkreis ist unterbrochen. Oder was ich sage, dringt zu dir durch, aber du kannst nicht darauf reagieren. Das weiß ich alles nicht. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass du mich hörst, und habe mit dir gesprochen und dir vorgelesen. Aber solange das nicht sicher ist, hat es keinen Sinn, dass ich bleibe. Ich kann es nicht erklären, aber ich habe so etwas wie eine Ahnung, dass du von dem, was ich sage, zumindest die Hauptpunkte mitbekommst.«
Keine Antwort.
»Vielleicht rede ich jetzt Unsinn. Aber ich fahre nach Tokio zurück und weiß nicht, wann ich das nächste Mal kommen kann. Also sage ich einfach, was mir so durch den Kopf geht. Lach mich ruhig aus – wenn du kannst.«
Tengo verstummte und betrachtete seinen Vater. Natürlich reagierte er nicht.
»Du liegst hier im Koma. Du hast dein Bewusstsein und deine Gefühle verloren. Du wirst künstlich am Leben erhalten und bist – wie der Arzt sagt – ein lebender Leichnam. Auch wenn er sich etwas euphemistischer ausgedrückt hat. Nun, das ist wohl der medizinische Standpunkt. Aber eigentlich ist es nur der äußere Anschein . Du hast doch nicht wirklich dein Bewusstsein verloren, oder? Ich habe die ganze Zeit irgendwie das Gefühl, dass du es, während dein Körper hier im Koma liegt, irgendwo herumstreifen lässt.«
Stille.
»Ich weiß, das sind ziemlich wilde Mutmaßungen. Würde ich jemandem davon erzählen, hielte er mich für verrückt. Aber anders kann ich es mir nicht vorstellen. Vielleicht hast du einfach das Interesse an dieser Welt verloren. Aus Enttäuschung und Widerwillen jede Lust verloren. Hast du vielleicht deshalb beschlossen, deinen realen Körper zu verlassen und ein anderes Leben zu führen? In einer Welt in deinem Inneren?«
Noch tiefere Stille.
»Ich habe Urlaub genommen, habe ein Zimmer in einer Pension gemietet und bin jeden Tag hergekommen, um dir vorzulesen. Jetzt sind es schon fast zwei Wochen. Allerdings bin ich nicht nur gekommen, um mich um dich zu kümmern. Ich wollte auch etwas über meine Geburt erfahren und wer mein leiblicher Vater ist. Inzwischen ist mir das gleichgültig. Woher ich komme oder nicht komme, spielt keine große Rolle mehr für mich. Ich bin ich. Und du bist so etwas wie mein Vater . Eigentlich genügt mir das. Ich weiß nicht, ob man das eine Aussöhnung nennen kann. Vielleicht habe ich mich ja auch einfach mit mir selbst ausgesöhnt.«
Tengo atmete tief durch und senkte seine Stimme.
»Im Sommer warst du noch bei Bewusstsein. Ziemlich verwirrt, aber dein Bewusstsein funktionierte noch. Damals bin ich in diesem Zimmer einem Mädchen wiederbegegnet. Sie ist hier gewesen, nachdem man dich ins Untersuchungszimmer gebracht hatte. Es war so etwas wie ihr kindliches Selbst. Ich bin wieder in die Stadt gekommen und so lange geblieben, weil ich hoffte, sie
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