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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wiederzusehen. Das ist der wahre Grund, aus dem ich hier bin.«
    Tengo seufzte und legte die Hände auf die Knie.
    »Aber sie ist nicht mehr aufgetaucht. Damals war sie in einer sogenannten Puppe aus Luft hierhertransportiert worden, einer Art Kapsel oder Kokon. Es würde zu lange dauern, die Situation zu erklären, aber die Puppe aus Luft war ein Phantasieprodukt und etwas Fiktives. Aber das ist sie jetzt nicht mehr. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion ist verschwommen. Am Himmel stehen zwei Monde. Auch sie stammen aus der Welt der Fiktion.«
    Tengo sah seinem Vater ins Gesicht. Konnte dieser ihm folgen?
    »In diesem Zusammenhang erscheint es nicht so weit hergeholt, dass dein Bewusstsein sich von deinem Körper löst, in andere Welten reist und sich dort frei bewegt. Es ist, als hätten die Gesetze unserer Welt begonnen sich zu lockern. Und ich habe die seltsame Ahnung, dass du das wirklich tust. Dass du dich zum Beispiel nach Koenji begibst und dort an meine Wohnungstür klopfst. Du weißt es doch genau! Du sagst, du seist Kassierer von NHK , hämmerst wie wild gegen die Tür und schreist Drohungen durchs Treppenhaus. Genau wie du es früher in Ichikawa gemacht hast.«
    Der Luftdruck im Zimmer schien sich ein wenig verändert zu haben. Das Fenster stand noch immer offen, aber es drangen keine nennenswerten Geräusche von außen herein. Nur hin und wieder zwitscherten unvermittelt die Spatzen.
    »In meiner Wohnung in Tokio lebt ein Mädchen. Sie ist nicht meine Freundin oder so was. Ich habe sie nur vorübergehend bei mir aufgenommen. Jedenfalls hat sie mir am Telefon erzählt, dass vor ein paar Tagen ein NHK -Kassierer dort gewesen sei. Er hat gegen die Tür gehämmert und alles Mögliche gesagt und gemacht. Seine ganze Verhaltensweise glich auf wundersame Weise haargenau der deinen. Was sie gehört hat, waren genau die Worte, an die ich mich von früher erinnere. Ehrlich gesagt würde ich diese Dinge am liebsten komplett aus meinem Gedächtnis streichen. Und ich glaube, dass in Wirklichkeit du dieser Kassierer bist. Irre ich mich?«
    Tengo schwieg für etwa dreißig Sekunden. Aber sein Vater rührte sich nicht.
    »Ich verlange nur eins: dass du nicht mehr bei mir klopfst. Ich besitze keinen Fernsehapparat. Und die Zeiten, in denen wir zusammen Gebühren kassiert haben, sind längst vorbei. Darüber hatten wir uns doch geeinigt. Meine Lehrerin hat damals zwischen uns vermittelt. An ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber sie war meine Klassenlehrerin, so eine Kleine mit Brille. Das weißt du doch noch? Also, ich möchte nicht, dass du noch einmal an meine Tür klopfst. Du bist nicht mehr Kassierer bei NHK . Und damit auch nicht befugt, Leute einzuschüchtern.«
    Tengo stand auf, ging ans Fenster und sah hinaus. Ein alter Mann in einem dicken Pullover und mit einem Stock in der Hand taperte das Kiefernwäldchen entlang. Er machte wohl einen Spaziergang. Er hatte weißes Haar, war groß und hielt sich sehr aufrecht. Aber sein Gang wirkte steif. Fast, als habe er vergessen, wie man geht, und müsse sich bei jedem Schritt neu daran erinnern. Tengo beobachtete ihn eine Weile. Der alte Mann durchquerte langsam den Garten, bog um die Ecke eines Gebäudes und verschwand. Bis zum Schluss schien er sich nicht genau erinnern zu können, wie man ging. Tengo wandte sich wieder seinem Vater zu.
    »Ich werfe dir nichts vor. Du hast das Recht, dein Bewusstsein gehen zu lassen, wohin es dir beliebt. Es ist dein Leben und dein Bewusstsein. Tu, was du für richtig hältst. Es steht mir nicht zu, dir Vorschriften zu machen. Aber du bist kein NHK - Kassierer mehr. Also gib dich auch nicht mehr als einer aus. Das rettet dich auch nicht.«
    Tengo setzte sich auf das Fensterbrett und suchte in der Luft des kleinen Zimmers nach Worten.
    »Ich weiß nicht, wie du gelebt hast, was deine Freuden und was deine Sorgen waren. Aber auch wenn dein Leben nicht sehr erfüllt war, solltest du das nicht an fremden Türen auslassen. Auch wenn das Orte sind, die dir von früher vertraut sind, und diese Tätigkeit deine Stärke war.«
    Er schwieg und betrachtete das Gesicht seines Vaters.
    »Ich möchte nicht, dass du weiter an die Türen von Leuten klopfst. Mehr verlange ich nicht. Hör auf damit. Ich bin jeden Tag gekommen, habe mit dir in deinem Koma gesprochen und dir vorgelesen. Und wir haben uns zumindest teilweise ausgesöhnt. Und zwar hier, in dieser realen Welt. Vielleicht gefällt es dir nicht, aber es ist besser, wenn du

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