1Q84: Buch 3
Aber natürlich waren Zweifel und Fragen in ihm zurückgeblieben. Warum hatte Fukaeri das getan? Hatte sie etwas damit bezweckt? Oder war es nur eine Art vorübergehende Manie gewesen?
Aber eines wusste Tengo genau: Um einen Liebesakt hatte es sich nicht gehandelt. Fukaeri mochte ihn wirklich – das stand außer Frage. Aber sie empfand keine Liebe, Begierde oder etwas Ähnliches für ihn. Sie begehrte überhaupt niemanden . Tengo setzte kein großes Vertrauen in seine Menschenkenntnis, aber dass Fukaeri sich leidenschaftlich und lustvoll stöhnend einem Mann hingab, konnte er sich nicht vorstellen. Nein, es war fraglich, ob sie überhaupt einen passablen Liebesakt hinbekäme. Sie vermittelte so gar nicht den Eindruck.
In Gedanken versunken, lief er durch die Straßen von Koenji. Die Sonne ging unter, und ein kalter Wind kam auf, aber das kümmerte ihn nicht. Es gefiel ihm, im Gehen nachzudenken und diese Gedanken später am Schreibtisch auszuformulieren. Regen und Wind störten ihn dabei nicht.
Unterdessen war er zum »Gerstenkopf« gelangt. Da er nichts anderes vorhatte, betrat Tengo das Lokal und bestellte ein Carlsberg vom Fass. Das Lokal hatte gerade erst aufgemacht, und er war der einzige Gast. Tengo verbannte alle Gedanken aus seinem Gehirn und trank ruhig sein Bier.
Doch der Luxus der Gedankenlosigkeit blieb ihm nicht lange vergönnt, denn es existiert kein Vakuum in der Natur. Er musste an Fukaeri denken. Wie in einem kurzen, bruchstückhaften Traum kamen ihm ihre Worte in den Sinn.
SIE IST VIELLEICHT GANZ IN DER NÄHE. MAN KÖNNTE ZU FUSS HINGEHEN.
Das hatte Fukaeri gesagt. Deshalb durchstreifte er auf der Suche nach Aomame die Stadt. Und war in dieses Lokal gegangen. Was hatte Fukaeri sonst noch gesagt?
SIE BRAUCHEN SICH KEINE SORGEN ZU MACHEN. SIE WIRD SIE FINDEN.
Wie Tengo Aomame suchte, so war auch sie auf der Suche nach ihm. Tengo hatte das nicht begriffen. Er war so sehr von seiner eigenen Suche nach Aomame absorbiert gewesen, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, sie könnte ihn genauso suchen.
ICH BIN DIE, DIE WAHRNIMMT, UND SIE SIND DER, DER EMPFÄNGT.
Auch das hatte Fukaeri damals gesagt. Sie nahm wahr, Tengo war der Empfänger. Aber Fukaeri äußerte das, was sie wahrnahm, nur wenn sie es wollte. Tengo konnte nicht beurteilen, ob sie dabei einem bestimmten Prinzip oder Lehrsatz folgte oder einfach nur ihrem Gutdünken.
Tengo rief sich noch einmal in Erinnerung, wie sie miteinander geschlafen hatten. Das schöne siebzehnjährige Mädchen war auf ihn geklettert und hatte seinen Penis in sich eingeführt. Ihre vollen Brüste wippten elastisch wie zwei reife Früchte. Wie verzückt hielt sie die Augen geschlossen, und ihre Nüstern blähten sich vor Erregung. Ihre Lippen formten Worte, die keine waren. Zwischen den weißen Zähnen schaute hin und wieder ihre rosa Zungenspitze hervor. Tengo hatte die Szene noch ganz deutlich vor Augen. Sein Körper war gelähmt gewesen, aber sein Bewusstsein hellwach. Und seine Erektion vollkommen.
Aber so deutlich er sich die Szene auch ins Gedächtnis rief, sie erregte ihn nicht. Weckte in ihm keineswegs den Wunsch, noch einmal mit Fukaeri zu schlafen. Das war jetzt fast drei Monate her, und seitdem hatte er keinen Sex gehabt. Und nicht ein einziges Mal ejakuliert. Das war für Tengo äußerst ungewöhnlich. Er war ein gesunder, dreißigjähriger Junggeselle mit einer normalen, positiven Einstellung zur Sexualität, der seine Begierden wenn möglich auch auslebte.
Doch auch als er in Kumi Adachis Wohnung mit ihr im Bett gelegen und sogar ihr Schamhaar an seinem Bein gespürt hatte, hatte Tengo keine Lust empfunden. Sein Penis hatte sich die ganze Zeit über nicht geregt. Vielleicht hatte es am Haschisch gelegen. Aber eigentlich glaubte er das nicht. Bei ihrem Geschlechtsverkehr an jenem Gewitterabend hatte Fukaeri etwas Bedeutsames aus seinem Inneren mit sich genommen. Wie man ein Möbelstück aus einer Wohnung trägt. So kam es ihm vor.
ABER WAS DENN NUR?
Tengo schüttelte den Kopf. Er trank sein Bier aus und bestellte einen Four Roses on the rocks und gemischte Nüsse dazu. Genau wie damals.
Vielleicht war seine Erektion an dem Unwetterabend auch zu perfekt gewesen. Sein Penis war härter und größer gewesen als sonst. Er war ihm gar nicht wie sein eigenes, vertrautes Geschlechtsteil erschienen. So glatt und glänzend, wie er gewesen war, hatte er eher wie ein Symbol gewirkt als wie ein realer Penis. Die
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